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Notabene Peter Bichsel

Der Sohn, der eine Sehenswürdigkeit war

Peter Bichsel, 78, Schriftsteller und Publizist, über Städtereisen und die Sehenswürdigkeiten, die wirklich welche sind.

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Peter Bichsel Autor
Kurt Reichenbach

Eingefallen ist mir die Geschichte wieder, weil kürzlich das «Berliner Tagebuch» von Frisch herausgekommen ist. Eine Silvesternacht in New York, vor langer Zeit, das Empire State Building war damals noch der höchste Bau der Welt, wir waren erst mal an einer langweiligen Party, und Max Frisch und ich beschlossen, zu Fuss nach Hause zu gehen - ein langer Weg, und es war wunderschön, mit Max durch Städte zu wandern - selbstverständlich mit gelegentlichen Zwischenhalten in einer Bar und beide noch etwas gereizt wegen des misslungenen Abends an der öden Party. Und in der letzten Bar versuchte ein sehr Angetrunkener, uns etwas zu erklären oder einfach auf uns einzureden, und Frisch versuchte ihn abzuwimmeln, und plötzlich sagte jener: «Ich bin der Sohn des Erbauers des Empire State Buildings.» Frisch wurde hellwach, und er versuchte nun seinerseits, den anderen ins Gespräch zu ziehen, aber wesentlich mehr wusste er dazu nicht zu erzählen, als dass er eben der Sohn des Erbauers sei. Immerhin, der Abend war gerettet, wir hatten den Sohn des Architekten getroffen, und wir kehrten zufrieden nach Hause zurück.

Anderntags haben wir dann wenigstens noch im Lexikon den Namen Lamb, so hiess der Mann, gesucht und gefunden - Shreve, Lamb und Harmon hiessen die Architekten. Aber so überwältigend wie in der vergangenen Nacht empfanden wir die Begegnung nicht mehr. Irgendwie fällt mir diese Geschichte immer wieder ein, wenn ich Städteführungen sehe oder gar selbst an einer teilnehmen muss. Es ist eigentlich, wo auch immer in der Welt, immer irgendwie dieselbe Stadt, immer die gleiche, das gleiche Rathaus, die gleiche Kirche, das gleiche Mittelalter, die gleichen Jahreszahlen. Und was macht man mit diesem Wissen anderntags?

Wer eine Stadt kennenlernen will, der muss sie erwandern. Und auch erleiden

«Remscheid die Röntgenstadt» steht am Bahnhofsschild von Remscheid, und der Mann, der mich dort abholt, sagt als Erstes: «Wussten Sie, dass Röntgen hier geboren ist?» Und er schlug eine Stadtführung vor und einen Besuch des entsprechenden Museums. Die Röntgenstadt - und der spätere Nobelpreisträger Röntgen war drei Jahre alt, als seine Familie von Remscheid wegzog nach Holland. In Solothurn hat immerhin Napoleon ein Glas Wasser getrunken. Eigenartig, dass mich der Amerikaner, der mich am Flughafen in New York abholte, nicht darauf aufmerksam machte, dass Edgar Allen Poe hier lebte. Lokalgeschichte gehört in Kleinstädte, denn Antikes ist wertvoll und selten. Die Einheimischen wissen zwar nichts davon. Stadtführungen erleidet man in anderen Kleinstädten.

Wer aber eine Stadt kennenlernen will, der muss sie erwandern und stehen bleiben und staunen und sie auch erleiden und erdulden. Jedes Mal, wenn ich bei einem Besuch bei Max Frisch in Zürich etwas Abschätziges über die Stadt sagte, sagte er nach einiger Zeit: «Wir gehen spazieren.» Und es war immer wieder derselbe Spaziergang. Und er sprach dabei nicht über Zürich. Der Spaziergang endete auf dem Lindenhof, und da stellte er sich vorn an die Umrandung, stand da wie der Kapitän auf der Brücke, machte eine grosse Handbewegung über die Stadt, die vor uns lag und schaute mich dann an - ja, eine wunderschöne Stadt.

Jedes Mal, wenn ich nach New York kam, machte ich am zweiten Tag jene Wanderung, die ich damals machte mit Frisch, als er mir die Stadt erklären wollte: erst mal frühstücken im Bigelow, damals der letzte Drugstore Manhattans, also jene eigenartige Mischung von Drogerie und Kneipe. Dann mit der U-Bahn nach South Ferry, der untersten Spitze von Manhattan, mit der grossen Fähre an der Freiheitsstatue vorbei nach Staten Island und zurück, und der lange Weg zurück zum Ausgangspunkt. Und keine Erklärungen, aber eine echte Stadtführung. Er führte mich auf der richtigen Route durch die Stadt, so wie ein Bergführer seine Leute auf den Gipfel führt, und so wie der Autor Max Frisch mich in seinen Tagebüchern durch das Labyrinth seines und meines Denkens führt.

Und da fällt mir ein, dass ich einmal auf der Strasse in Los Angeles den Filmstar James Stewart vorbeigehen sah, aber das ist nicht erzählenswert und nicht einmal erzählbar, eben nicht mehr als eine Sehenswürdigkeit, und für eine solche hielt sich wohl auch der Sohn des Architekten des Empire State Buildings.

Von Peter Bichsel am 27. Februar 2014 - 11:03 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 17:41 Uhr