1. Home
  2. People
  3. Klartext
  4. Nahost-Experte Peter Scholl-Latour über den Drang nach Osten

Notabene Peter Scholl-Latour

Gefährlicher Drang nach Osten

Nahost-Experte und Buchautor Peter Scholl-Latour, 89, über die Situation auf der Krim.

Artikel teilen

Peter Schull-Latour Nahost-Experte und Buchautor
Fabienne Bühler

Wenn das bedeutendste deutsche Magazin, «Der Spiegel», auf seinem Titelblatt den russischen Präsidenten Wladimir Putin als «Brandstifter» bezeichnet, muss man sich fragen, ob die deutsche Öffentlichkeit den Kalten Krieg wieder aufleben lassen will oder ob man in Berlin - in Ermangelung ausreichender militärischer Rüstung - die gewaltige Wirtschaftskraft der Bundesrepublik aufbietet, um gegenüber Moskau zu protzen. Die Politik der EU steht - angestachelt durch Washington - im Begriff, auf eine trügerische «Via triumphalis» einzubiegen, die durch Arroganz, Ignoranz und Heuchelei gekennzeichnet ist.

In der Krim-Krise zeigt nicht Putin, sondern Barack Obama eine grosse Aggressivität, welche die Weltmacht an den Rand eines neuen strategischen Versagens steuern könnte. Der Hinweis auf «rote Linien», deren Überschreiten furchtbare Strafgerichte auslösen würde, kann nur noch mit Verwunderung oder Spott wahrgenommen werden.

Es ist eine Tatsache, dass die Mehrheit der Bevölkerung auf der Krim sich als Russen fühlt und nach Moskau ausgerichtet ist. Für russische Patrioten ist diese strategische Halbinsel im Schwarzen Meer historisch bedeutend. Hier musste sich das Zarenreich im 19. Jahrhundert gegen einen britisch-französischen Feldzug wehren. Und im Zweiten Weltkrieg hat die Rote Armee bei der Verteidigung von Sewastopol einen Heldenmut aufgebracht, der selbst die deutsche Wehrmacht beeindruckte.

Wenn man in die Geschichte zurückblickt, müsste man zudem berücksichtigen, dass die Krim zwei Jahrhunderte unter tatarischer Herrschaft stand, bevor Katharina die Grosse sie wieder eroberte und die Mehrzahl der muslimischen Einwohner vertrieb.

Seither gehörte die Halbinsel eindeutig zur Russischen Föderationsrepublik. Wenn heute ukrainische Nationalisten Anspruch darauf erheben, so geht das auf eine «Wodka-Laune» des damaligen KP-Chefs Chruschtschow zurück, der 1954 völlig willkürlich die Krim an die Ukraine verschenkte. Eine überzeugende völkerrechtliche Lösung war das nicht. Die Europäer und Amerikaner scheinen verdrängt zu haben, dass die Russische Föderation nach Auflösung der Sowjetunion immense Territorien verloren hat und auf eine westliche Grenzziehung zurückfiel, die dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk im Jahr 1917 entsprach, als Lenin sich dem Diktat des deutschen Generalstabs beugen musste.

1989 waren Gorbatschow und Jelzin die frewilligen Totengräber des Sowjetimperiums

Im Jahr 1989 waren Michail Gorbatschow und dann Boris Jelzin die freiwilligen Totengräber des Sowjetimperiums. Deutschland sollte nicht vergessen, das ein resoluter Potentat im Kreml damals - statt wie Gorbatschow zu kapitulieren - sich der deutschen Wiedervereinigung massiv hätte in den Weg stellen können. Viele Sowjet-Generäle in der damaligen DDR warteten nur auf den Befehl, ihre Panzer einsetzen zu können. Dass der Abzug von einer halben Million Rotarmisten aus der DDR ohne Zwischenfälle ablief, sollte bei den deutschen Politikern und Publizisten mit einer gewissen Dankbarkeit honoriert werden.

Was Wladimir Putin angeht, der aufgrund seiner profunden Kenntnisse Deutschlands als ehemaliger KGB-Offizier der geeignete Gesprächspartner für Berlin wäre, so kann man davon ausgehen, dass er im Fall von freien Wahlen in Russland von 60 Prozent seiner Landsleute wiedergewählt würde und dass er dank seinem Widerstand gegen den amerikanisch-europäischen «Drang nach Osten» noch an Zustimmung gewinnen würde. Gewiss, Putin ist kein Demokrat, wie die EU oder die USA sich das vorstellen, aber die Erben des Zarenreichs bedürfen offenbar der harten Hand eines Autokraten. Wenn die Amerikaner zu Drohgebärden greifen, Kampfflugzeuge nach Polen und Kriegsschiffe ins Schwarze Meer entsenden, sollte man bedenken, dass der Versuch, Russland nach Asien, gewissermassen ins chinesische oder iranische Lager, abzudrängen, den eigenen Interessen schaden würde. Man denke nur an die schwierige Evakuation der US-Armee aus Afghanistan, die noch bevorsteht.

Humanitäre Toleranz und Förderung einer freiheitlichen Gesellschaft kann man von Putin nicht erwarten. Aber wer würde nachträglich Peter dem Grossen einen Vorwurf daraus machen, dass er die Aufsässigkeit seiner Bojaren erstickte und eigenhändig auf dem Roten Platz in Moskau an der Hinrichtung der meuternden Palastgarde teilnahm?
 

Von Peter Scholl-Latour am 20. März 2014 - 11:13 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 17:36 Uhr