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Notabene Peter Scholl-Latour

Über die rote Linie in den Misserfolg

Nahost-Experte und Buchautor Peter Scholl-Latour, 89, äussert sich zur Lage in Syrien.

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Peter Schull-Latour Nahost-Experte und Buchautor
Fabienne Bühler

Was hat den US-Präsidenten wohl bewogen, eine «rote Linie» (das absolute Verbot eines Einsatzes von chemischen Kampfstoffen) zu ziehen, die die USA in die Plicht nehmen, in den syrischen Bürgerkrieg einzugreifen? Barack Obama sieht sich nun zu Massnahmen gezwungen, denen weder die Alliierten der USA noch – was schwerer wiegt – die höchsten US-Generale einen Sinn abgewinnen können.

Die Welt blickt mit Grauen auf die verkrampften Leichen, die in den von Rebellen kontrollierten örtlichen Vororten von Damaskus pausenlos auf die Bildschirme projiziert werden. Obama behauptet, er habe den eindeutigen Beweis dafür, das der syrische Präsident Baschar al-Assad den Befehl zu diesem schrecklichen Massaker gegeben habe. Er stützt sich dabei auf ein angebliches Telefongespräch, das dieser mit seinem Bruder Maher al-Assad geführt habe. Das klingt wenig glaubwürdig. Als ob nach den Enthüllungen über die Omnipräsenz der National Security Agency noch ein halbwegs vernünftiger Mensch auf die Idee käme, eine vertrauliche Mitteilung per Telefon zu übermitteln.

Die Welt blickt mit Grauen auf die verkrampften Leichen des Giftgas-Einsatzes

Es mutet zudem mehr als seltsam an, dass die massive Verwendung von Sarin und anderen Giftstoffen genau zu jenem Zeitpunkt stattfand, als Damaskus den neutralen Uno-Beobachtern die Inspektion der betroffenen Wohngebiete erlaubt hatte.

Wir wollen nicht ausschliessen, dass Assads Bruder Maher, der als brutaler Kriegsherr gilt, in törichter Verkennung der Sachlage die Giftgas-Tragödie ausgelöst haben könnte. Aber die westlichen Politiker und mehr noch die westlichen Medien, die in ihrer Parteilichkeit nicht zu überbieten sind, haben der Regierung von Damaskus die alleinige Schuld zugewiesen, ohne die Ergebnisse der UN-Untersuchungskommission überhaupt abzuwarten.

In juristischen Zweifelsfällen wird stets die Frage gestellt: «cui bono» – wem nützt das Verbrechen? Die Überschreitung der «roten Linie» kommt ganz klar dem radikalsten Flügel der oppositionellen Dschihadisten zugute. Die Aufständischen, so hört man, würden gar nicht über chemische Kampfstoffe verfügen. Wer das behauptet, vergisst den grauenhaften Einsatz von Senfgas und Sarin, die aus den USA und der früheren Sowjetunion an den damals noch hochgeschätzten irakischen Diktator Saddam Hussein geliefert worden sind und ihm erlaubten, den Gegenangriff der iranischen Revolutionswächter des Ayatollah Khomeini in den Sümpfen des Schatt al-Arab zu ersticken.

Die USA geben vor, sich auf einen gezielten Bomben- und Raketenkrieg von zwei bis drei Tagen beschränken zu wollen, um so gegen den Einsatz chemischer Waffen ein Exempel zu statuieren. Es gehe nicht darum, Assad zu stürzen. Nur sollte man da nicht das Jahr 2003 vergessen. Damals warnte US-Aussenminister Colin Powell wider besseres Wissen vor der Vernichtung Europas durch Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins, über die der irakische Diktator gar nicht verfügte.

Diese schändliche Irreführung der Weltöffentlichkeit und des Weltsicherheitsrats durch die Regierung von George W. Bush hat zweifellos dazu beigetragen, dass das britische Parlament – zu Zeiten Tony Blairs noch als «Pudel Amerikas» verspottet – im Falle Syrien jetzt eine militärische Beteiligung ausschliesst. Ein Vorgang, der Washington ausserordentlich nachdenklich stimmen müsste.

Hohes Ansehen erworben hat sich in dieser Krisenlage der höchste Soldat und Kommandeur der USA, General Martin Dempsey. Auf Obamas Frage, welche kriegerischen Optionen die USA hätten, um Damaskus in die Knie zu zwingen, sagte er: «Vernichtung der syrischen Luftwaffe und Kommandozentralen, Eingreifen mit begrenzten Kampftrupps amerikanischer Elitesoldaten, Sperrung des syrischen Luftraums.»

Aber Dempsey fügte hinzu, dass ein solches Eingreifen, dessen Dauer und Ausweitung gar nicht abzusehen seien, viele Milliarden Dollar verschlingen würde – und nicht mit einem strategischen Erfolg zu rechnen sei. Nach Vietnam, Irak, Afghanistan und Libyen zeigt sich erneut, dass im Zeitalter des «asymmetric war» kein Krieg mehr gewonnen und keine politische Stabilisierung erreicht werden kann. Oder will Amerika – in seiner Verblendung – wirklich den Terroristen von Al Kaida jenen arabischen Siedlungsraum ausliefern, den man den Fruchtbaren Halbmond nennt?

Von Peter Scholl-Latour am 5. September 2013 - 11:50 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 18:24 Uhr