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  4. Christian Seidel: Für Experiment schlüpft er in Rolle der Frau

Christian Seidel

Mutiges Experiment: Er lebte ein Jahr als Frau

Er hat die klassische Geschlechterrolle satt. Deshalb tauscht Christian Seidel, der ehemalige Manager von Topmodel Claudia Schiffer und Moderatorin Arabella Kiesbauer, seinen Anzug gegen Strumpfhosen und Rock. Und sieht nach seinem ungewöhnlichen Selbsterfahrungsprojekt sowohl das weibliche als auch das männliche Geschlecht in einem völlig neuen Licht. 

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Der Auslöser für dieses gewagte Experiment ist der kalte Monat Februar. Weil Christian Seidel keine Lust hat, sich eine Bronchitits einzufangen - und ebenso wenig lange Unterhosen ausstehen kann - kauft er sich in einem Kaufhaus Nylons. «Es gab nichts in der Männerunterwäsche-Abteilung. Ich bin herumgeirrt und stand dann plötzlich in der Frauenabteilung», berichtet Seidel vergangene Woche in der Sendung von Kurt Aeschbacher. «Unglaublich, wie das schillert und glänzt», denkt er sich zwischen all den Damendessous - und traut sich tatsächlich an die Stumpfhosen ran. Beseelt, etwas für seine Beine zu kaufen. So ging das ganze Theater los, beschreibt der 54-jährige Münchner in seinem Buch «Die Frau in mir: Ein Mann wagt ein Experiment». Die Reaktion seiner Frau, eine aus der Ukraine stammende Medizinstudentin, ist natürlich absehbar. Deshalb hätte er sich auch kaum getraut, sich ihr so zu präsentieren. «Sie dachte zuerst, ich mache eine Kostümparty», erinnert er sich. «Fühlst du dich nicht gut?», fragt sie geschockt. Schliesslich habe sie doch einen Mann geheiratet.

Um in die Welt der Frauen abzutauchen, lässt sich Christian Seidel auf ein mutiges Experiment ein. Zum Rock kauft sich der 1.90 Meter grosse Mann noch falsche Brüste, eine blonde Echthaar-Perücke, Make-up, Nagellack und Stöckelschuhe. Und muss feststellen: kein leichtes Unterfangen, grazil darin zu gehen. Um als «Christiane» dennoch unfallfrei durchs Leben zu kommen, besucht er ein Seminar für High-Heels-Trägerinnen. «Zwei, drei Tricks, und schon schwebt man», erzählt er im «Bild am Sonntag»-Interview. «Weil man ja nicht wirklich auf den Boden tritt.»

Die Unduldsamkeit, die ich als Mann hatte, war weg

Nicht, dass Seidel von dem Moment an nur wie eine Frau läuft - auch wenn er sich zwischendurch selbst in Frage stellt, nähert er sich innerlich immer mehr dem anderen Geschlecht an. Themen wie Kosmetika oder die Feinheiten des weiblichen Orgasmus werden besprochen, für Frauen wird er plötzlich zur besten Freundin. Man sagt ihm sogar, dass er schöne Beine habe. «Wann würde das je ein Mann zu einem anderen Mann sagen?» Christian darf als Christiane lachen, weinen, sich daneben benehmen. Ohne die vernichtende Frage: «Wie bist denn du drauf?» Als Mann, so sagt Seidel, müsse man immer so beherrscht sein. Dieser Druck fällt plötzlich von ihm ab. «Die Unduldsamkeit, die ich als Mann hatte, war weg.» Dieses «Herumgeholze», wie er es nennt. Die Rastlosigkeit, die Darstellungssucht, die mangelnde Empathie und der Drang, immer recht haben zu müssen. 

Während sich Christian Seidel zunehmend wohler in seiner Haut fühlt, ergeht es seinem Umfeld genau umgekehrt. Er wird als Freak abgestempelt, verliert seine Freunde. Teils Männer, mit denen er 30 Jahre lang befreundet war. «Wenn'st fertig bist mit der Nummer, kannst dich wieder melden», heisst es. Leere Versprechungen, wie sich am Ende herausstellt.

Schwule Sau!

Die Reaktionen seiner Geschlechtsgenossen geben ihm während des ganzen Experiments sowieso zu denken. Sie grabschen Christiane an den Hintern, betaschen ihren Busen und spucken abschätzig auf den Boden. Einen Vergewaltigungsversuch kann sie - nach jahrelangem Taekwondo-Training - gottlob abwehren. «Als Frau wäre ich da nicht rausgekommen», weiss der einstige Manager von Claudia Schiffer und Produzent von RTL-Sendungen wie «Model '92» oder «Gottschalk Late Night». Doch der Hass, der ihm entgegenschlägt, wird noch schlimmer. Man schimpft ihn «schwule Sau», und selbst Homosexuelle fühlen sich von Seidel provoziert. 

Nein, er beneide die Frauen nicht um das tägliche «Gepinsel und Gemache», sagt der Buchautor. Alleine schon den Blicken der Männer ausgeliefert zu sein, irritert ihn während seiner Zeit als Frau. Um über die Runden zu kommen, nimmt er einen Job als Bedienung in einem Münchner Szene-Café an. Andere Jobs will ihm niemand mehr vermitteln. Weil man ihn plötzlich für unseriös hält, droht seine Bank, ihm den laufenden Kredit zu streichen. «Welche Phobien haben Männer gegen ein bisschen Weiblichkeit? Gegen weibliche Utensilien oder weibliche Eigenschaften?», fragt er sich. 

Aber auch seine Frau, die im Buch «Maria» genannt wird, bekommt zunehmend Probleme mit dem Mann in Nylonstrümpfen an ihrer Seite. «Wann hörst du auf?», fragt sie beinahe täglich. Doch Seidel will nicht raus aus der «Welt der Sinne», die sich ihm offenbart hat. Seiner Gattin zuliebe nimmt er zwar ab und zu einen Tag frei von seiner Frauenrolle, doch am Ende verhindert nur die Tatsache, dass sie nicht permanent in München zugegen ist, den grossen Knall. «Sie hat gedacht, sie verliert mich», sagt Seidel. Zwar hätte sie sich sehr tolerant verhalten, dennoch aber sehr unter den Umständen gelitten. 

Weil das auch bei seiner Libido der Fall ist und sein Testosteronlevel während dieser Zeit interessanterweise von acht auf den Frauenwert drei sinkt, beendet er schliesslich sein Experiment. Und verwandelt sich nach anderthalb Jahren wieder von Christiane zurück in Christian. Seine Ehe übersteht zwar den Rollentausch, seine Männerfreundschaften aber nicht. Sie hätten ihm wohl den «Verrat am Mannsein» bis heute nicht verziehen, mutmasst Seidel. Und weil er, wie er bei Aeschbacher beweist, im Winter noch immer Nylonstrumpfhosen trägt, ist und bleibt er wohl für viele der Freak, zu dem er während seines Selbstversuchs geworden ist. Doch die Beinbekleidung erfüllt für den 54-Jährigen schlicht und einfach einen praktischen Zweck: «Ich bin seither nicht mehr krank geworden.»

Von NB am 16. Januar 2014 - 16:42 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 17:52 Uhr