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Der Abwart vom Jungfraujoch

Andreas Wyss hat den Topjob of Europe

Er schippt meterhohe Schneehaufen, kontrolliert Hunderttausende Glühbirnen und empfängt eine Million Besucher. Andreas Wyss ist Hausmeister auf dem Jungfraujoch, 3454 Meter hoch - Top(-Job) of Europe.

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Eine derart hohe Arbeitsstelle kann einem ganz schön zu Kopfe steigen.

Andreas Wyss klettert aus dem 108 Meter tiefen Liftschacht, wo er sich um das Problem «Sphinx-Lift A+B Störung» (so die Alarmmeldung auf seinem Pager) gekümmert hat, als sein Handy klingelt. Ein Mann ruft an. Vor ein paar Tagen hat er sich für einen Job in Wyss’ Team beworben. Das Vorstellungsgespräch fand hier oben statt, in der Station Jungfraujoch, auf 3454 Metern über Meer. Er hätte den Job gerne gemacht, sagt der Mann, aber er müsse absagen, nach dem Bewerbungsgespräch habe er fürchterlich an Kopfweh gelitten.

«Nicht jeder Angestellte verträgt die Höhe», sagt Wyss später, Flachländer leiden hier bereits nach vier Stunden an Kopfschmerzen und Übelkeit. Wer auf dem Jungfraujoch arbeitet, muss seinen Kopf hinhalten - oder ihn durchsetzen. Letzteres macht Wyss seit 28 Jahren, «und zwar unheimlich gern». Der schönste Arbeitsplatz der Schweiz seis, das Panorama fasziniere ihn noch heute jeden Tag. Da hat der Mann so eine Aussicht und wird noch dafür bezahlt. «Jetzt reden Sie schon wie mein Chef», sagt Wyss.

Alle nennen ihn Dres. Andreas, Dres, Wyss, 53 Jahre alt, ist im Berner Oberland geboren, im Berner Oberland geblieben. Was er tut, wie er es tut, ist ruhig, klar und bedacht. Da ist viel Wissen, Erfahrung, Gelassenheit und die nötige Portion Oberländer Sturgrind, die es hier braucht, um Touristenwünsche und Naturgewalten in Einklang zu bringen. Selbst bei zunehmendem Arbeitsund abfallendem Luftdruck behält Wyss einen klaren Kopf. Weh tue es nur, wenn der Kopf verpfnüselt oder er sonst wie nicht zwäg sei: «Leichtes Unwohlsein im Tal fühlt sich auf 3500 Metern richtig krank an.»

Nach Luft japsende Japaner und Bollywood-Filmcrews

Nach 28 Jahren auf dem Joch mit Sturmböen bis 285 km/h (Orkan Wiebke am 27. Februar 1990), gefrorenen Abwasserrohren, nach Luft japsenden Japanern und überdrehten Bollywood-Filmcrews haut Wyss nichts mehr um. Und geht etwas kaputt - Dres regelt die Sache. Auf seiner Visitenkarte steht «Leiter technischer Unterhalt». Wyss ist die gute Seele im ewigen Eis, Alleskönner, Allesflicker, Alleberuhiger. Er ist der Abwart vom Jungfraujoch.

Dres der Pendler. Vier Stunden Arbeitsweg, zwei hin, zwei heim nach Meiringen BE. Wer das täglich in Kauf nimmt, muss seinen Job mögen. Es ist halb sechs Uhr morgens. Dres am Küchentisch löffelt in seiner Kaffeetasse. An der Wand hängt ein Fotokalender der Jungfraubahnen, auf dem Buffet liegt eine Jungfraujoch-Baseballkappe. Über dem Küchentisch mahnt eine geschnitzte Holztafel: «Ein liebes Wort am frühen Morgen erfreut das Herz den ganzen Tag.»

«Gämer!», sagt Dres.

Mit dem Auto gehts zuerst 40 Minuten bis Grindelwald, dann mit der Wengeneralpbahn auf die Kleine Scheidegg, von dort mit der Jungfraubahn hoch zum Joch. 1987 hat Dres auf dem Berg als Elektriker angefangen. «In 3500 Metern Höhe gehen Apparaturen schneller kaputt.» Computer überhitzen rascher, Kaffeemaschinen reagieren sensibler, Pistenfahrzeuge zicken eher. Extrem sei es bei Glühbirnen: Statt 1000 Stunden wie im Flachland, halten sie auf dem Berg lediglich 100 Stunden.

Im Zug sitzt Jungfraujoch-Personal, 120 Arbeitsplätze bietet die hochalpine Wunderwelt. Dres plaudert mit einer Mitarbeiterin des Lindt-Shops («Swiss Chocolate Heaven»), vis-à-vis döst ein Chinese, den wir später in der Küche als Koch wiedersehen werden. Die Zahnradbahn fährt in den Tunnel ein, 7 der 9,3 Streckenkilometer führen durch Eigerfels. Dann ist man oben, Station Jungraujoch. Und weils der höchstgelegene Bahnhof Europas ist, tauften ihn die Touristiker auf den marketingmässig nicht zu toppenden Namen «Top of Europe».

Es ist, als sorge Dres für ein bemanntes Raumschiff

Hier hat es einen Bahnhof, Restaurants, Shops, Museen, Lifte, Terrassen, die Forschungsanlage Sphinx, ein Panoramakino, den Eispalast und Aussenanlagen. Und alles in lebensfeindlicher Umgebung: wenig Sauerstoff, zwölfmal höhere Strahlung und Temperaturen bis minus 37 Grad. Es ist, als sorge Dres für ein bemanntes Raumschiff.

Als Erstes checkt der Cheftechniker die Umgebung, schaut durch die riesigen Fenster der Eingangshalle, hinaus in Richtung Aletschgletscher. Wurden über Nacht Stolleneingänge zugeschneit, Absperrungen zerstört, hat der Blitz irgendwo eingeschlagen, oder ist gar ein Hang lawinengefährdet und muss darum gesprengt werden?

Einsatz Dres! Er wird in die Küche gerufen. Ein Dampfgarer spinnt. In dieser Höhe siedet Wasser schon bei 85 Grad. Macht das Kochen nicht einfacher.

Durch verschlungene Gänge gehts in Dres' Einsatzzentrale, «Direktion» steht an der Tür, dahinter - ein Kämmerlein. Klein alles, sehr eng, vollgepufft mit Ordnern, Dienstplänen, Funkgeräten und Mammut-Jacken. «Klar hats wenig Platz», sagt Wyss, «aber wir haben hier auch Baukosten pro Quadratmeter wie an der Zürcher Bahnhofstrasse, da muss man zusammenrücken.»

Per Computer überwacht Dres die Jungfrau-Station. 5500 Sensoren übermitteln ihm jede Unregelmässigkeit. Klemmt eine Lifttür, flackert die Beleuchtung, spukt die Belüftung, Anomalie bei der Dachrinnenheizung, dem Blitzschutznetz, in den Toiletten, Küchen, Läden - Wyss klickt den Problemsektor an, zoomt hinein, noch näher, bis er quasi das fehlerhafte Lämpchen eruiert hat. Apropos: Vor der «Direktion» stehen Schränke voller Glühbirnen. Alle Arten und Abarten. Abertausende. Sparlampe E27, FL-Röhren 25 W, Kopfspiegellampe 75 W, Scheinwerfer Sphinx.

In Wyss’ Team sind acht Mitarbeiter, die sich um die Technik kümmern. Die meisten haben ihr Fachgebiet, sind Elektriker, Heizungsmonteur, Schlosser, Sanitärinstallateur, aber alle sind Allrounder. Das grösste Problem hier oben ist nämlich die Abgeschiedenheit. Bis ein Servicetechniker auf dem Jungfraujoch ist, kann es Stunden dauern. Also muss Team Wyss selber ran. Muss alles flicken, egal ob Kaffeemaschine, Multimedia-Projektor, WCSpülung oder Rolltreppe.

«Medizinischer Sauerstoff» für 15 Franken

Einsatz Dres! Er wird in die Toiletten gerufen. Ein Plattenleger ist da, einige der Plättli müssen ausgewechselt werden.

Die ersten Touristen treffen um 8.52 Uhr auf dem Joch ein. 2015 zählte man erstmals eine Million Gäste, bis zu 5000 am Tag, viele aus Asien. Die atemberaubende Bergwelt packt jeden - so oder so: Wer an Atemnot leidet, kauft am Kiosk eine Dose «Medizinischen Sauerstoff 99,5 %», 5 Liter für 15 Franken. Die Touristen sind begeistert vom Panorama (nur ein Asiat jammert, er hat seine Selfie-Stange verloren) und trippeln von der Halle hinaus in die Eiswelt. Obwohl ihr Schuhwerk nicht immer gletschertauglich ist. Manche tragen Stoffturnschuhe oder Ballerinas, «im Sommer oft sogar Flipflops» weiss Wyss. Da hat sich eine der Asiatinnen heute besser vorbereitet. In Erwartung von Eis und Kälte hat sie klugerweise an wärmendes Fell gedacht. Und steht nun da - in ihren fellgefütterten Schlafzimmer-Pantoffeln.

Einsatz Dres! Der Eispalast ruft. Die ins Gletschereis gehakten Höhlen und Gänge werden täglich mit dem Pickel nachgebessert. Kleiner Trick: Eisblöcke «klebt» man mithilfe eines Bügeleisens zusammen. Dabei gabs vorhin einen Kurzschluss. Dres flickt auch das.

Eine Million Gäste im Jahr, da erlebt Wyss so manche spezielle Situation. Er erzählt, wie er einmal...

Einsatz Dres! Das Gaspedal des Pistenbullys klemmt. Auch das erledigt er im Nu, kurvt mit dem Raupenfahrzeug virtuos auf dem Gletscher herum. Seit 25 Jahren lenkt er solche Dinger. Neuerdings, so will es die Behörde, brauchts dafür eine Prüfung. Dres hat deswegen letztes Jahr extra einen Kurs absolvieren müssen. So wie er jetzt guckt, traut man sich nicht, nach Details zu fragen.

Wieder zurück, berichtet er von allerlei Notfällen. Etwa als der Hochleistungslift stecken blieb, ein Sturm die Fahrleitung der Bahn herunterriss, Bergsteiger am nahen Mönch gerettet werden mussten oder medizinische Notfälle auftraten. Manchmal muss Dres gar Polizist spielen. Für Ordnung sorgen. Wie damals, als ein Gast ausrastete und andere gefährdete. Dres stellte ihn ruhig. Mit Gutzureden? Sauerstoff? «Kabelbinder», sagt Dres. Die Destination Jungfraujoch hat noch jeden zu fesseln vermocht.

Es wird Abend. Mit der Bahn wieder runter, zwei Stunden, zurück nach Meiringen. Und ein letztes Mal heisst es:

Einsatz Dres! Den ganzen Tag war er im Getümmel, umgeben von Mitarbeitern, umschwärmt von Touristen. Und ausgerechnet jetzt, in seiner Freizeit, lässt er sich wieder bedrängen. Da steht er, daheim im Stall, umringt von seinen 44 Lieblingen. Dres Wyss, Elektriker, Schlosser, Sanitärinstallateur, Polizist und Abwart vom Jungfraujoch - ist immer nach Feierabend auch noch ein wenig Schafzüchter.

Von Marcel Huwyler am 31. Januar 2016 - 07:58 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 15:27 Uhr