Der Himmel hängt wie ein grauer, nasser Lumpen über Paris. Am Quai d'Orléans auf der Insel St-Louis drängen Menschen ans Geländer, die Gesichter starr, als wären sie gemalt, hinter ihnen surren die Generatoren der TV-Übertragungswagen, es herrscht ein einziges grosse Schweigen. Was gibt es auch zu sagen?
Was die Menschen ennet der Seine sehen, das ist die pure Zerstörung: der Dachstock und der Dachreiter der Kathedrale Notre-Dame – fast vollständig abgebrannt! Als hätte ein Riese sie geköpft.
«Das ist für die Menschen eine nationale Katastrophe», sagt Livia Leu, 57, Schweizer Botschafterin in Paris – «un vrai désastre!». Am Tag nach dem Unglück nimmt sie sich die Zeit für einen Augenschein vor Ort.
Rund sieben Millionen Touristen aus der Schweiz pilgern jährlich nach Frankreich, sagt Leu. «Und Paris ist ja gleich nebenan» – vier Stunden von Bern, vier Stunden von Zürich.
In einer Menschenlücke hält die Botschafterin inne. «Dieser Anblick macht mich betroffen», sagt sie ernst, aber professionell, «die Notre-Dame ist das Herz von Paris, ihre Bedeutung in der Geschichte und der Kultur ist enorm.» Kurz nach ihrem Amtsantritt im letzten Herbst hat Leu in der Kathedrale ein Konzert des Laudate Deum Chors aus Lausanne besucht. «Das war sehr schön und eindrücklich.»
Und nun also die Zerstörung. Als Livia Leu am Abend des 15. April via Handy-Push vom Brand erfährt, vergewissert sie sich als Erstes, dass niemand in Gefahr ist. Später am Abend verbreitet sie auf Twitter eine Nachricht von Bundespräsident Ueli Maurer – und bekundet gleichzeitig ihre eigene Anteilnahme. Leu sagt, so funktioniere das heute.
Inferno in der Pariser Notre-Dame
Claire Hoffmann, 33, hat die Katastrophe wortwörtlich gerochen. Als sie am Abend des 15. Aprils ihre Arbeit verlässt – sie ist Kuratorin im Centre culturel suisse im hippen Stadtteil Marais – steigt Rauch in ihre Nase.
Hoffmann packt ihr Velo, fährt los. Die Notre-Dame liegt auf ihrem Heimweg. Bei der Louis-Philippe-Brücke stauen sich die Menschen. Hoffman bleibt stehen, realisiert, warum hier nichts mehr geht, denkt: «Nein, nein, das kann nicht sein! Das darf nicht sein!» Da fällt vor ihren Augen das Dach auf der Rückseite der Kathedrale in sich zusammen. «Ein Aufschrei ging durch die Menge.»
Heute, am Tag danach, sitzt sie am Tisch im luftigen Eingang des Kulturzentrums, berührt, überwältigt, von einem Ereignis, das niemand hat kommen sehen.
Seit vier Monaten lebt und arbeitet die Baslerin in Paris. Immer, wenn sie mit dem Velo an der Notre-Dame vorbeifährt, an den Strebebögen auf der Rückseite, die aussehen wie Spinnenbeine, dann merkt sie: «Ich lebe tatsächlich in Paris!» Wenn sie von diesem Moment erzählt, leuchten ihre blauen Augen durch die Locken.
«Die Notre-Dame wird uns alle überleben», davon sei sie stets überzeugt gewesen. Ein solches Denkmal, das lichterloh brennt – unvorstellbar. «Zu sehen, dass dieses Bauwerk nicht unsterblich ist, macht uns Menschen verletzlich», sagt sie. «Wir werden uns bewusst, dass wir nicht alles beherrschen können.»
Als sie die trauernden Menschen gesehen habe, sei ihr klar geworden, wie sehr Bauwerke die Menschen verbinden. «Kunst steht mitten in unserem Leben, ist nicht etwas Abstraktes.»
Neben Hoffmann sitzt der Direktor des Zentrums, Jean-Marc Diébold, 53, ein gebürtiger Lausanner. Am Katastrophen-Abend stellt er um 20 Uhr den Fernseher an – der französische Präsident Emmanuel Macron will verkünden, wie er die von den Protesten der Gilets jaunes ausgelöste Krise zu beenden gedenkt. «Aber sie sprachen nur von der Notre-Dame.» Diébold vergewissert sich, dass seine Uhr richtig geht. Erst dann glaubt er, was er hört. «Bis Mitternacht sass ich vor dem Fernseher und sah der Zerstörung machtlos zu.»
Die Dämmerung schleicht sich in die Pariser Strassen, rund um die Notre-Dame stehen die Menschen noch immer hinter rot-weissen Absperrbändern, stehen und schauen.
Unter ihnen Isabela Gygax, 29, blondes Haar, roter Mantel (noch von der Grossmutter). Vier Jahre hat sie an der Modeschule der Chambre Syndicale de la Haute Couture in Paris studiert – am gleichen Ort wie Modeschöpfer Yves St. Laurent.
Nun ist sie nach Paris zurückgekehrt, um Freunde zu besuchen. Gygax ist berührt, als sie die zerstörte Kathedrale sieht. «Es ist ja nicht nur heute, dass mich die Kathedrale in ihren Bann zieht», sagt sie dann. «Die Menschen haben sie von Hand gebaut, während 200 Jahren.» Ein so grosses Werk brennt in so kurzer Zeit nieder. «Das macht mich ganz demütig.»