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Ein Marzipan-Glücksschwein über Tradition, Sinn und Unsinn

Vorfreude ist ja bekanntlich die grösste Freude. Aber kann es sein, dass vor Silvester schon die ersten Fasnachtskiechli im Regal stehen und Schokohasen bereits in der ersten Reihe sitzen?

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Ein Marzipan-Glücksschwein über Tradition, Sinn und Unsinn

Ich traute meinen Augen nicht, als ich an Silvester in einer Basler-Bäckerei stand und eine Touristin neben mir mit grosser Freude feststellte: 'Haben Sie gesehen, es gibt schon Fasnachtsküchle'. 'Toll!', antwortete ich zynisch! Die Touristin schaute mich etwas erstaunt an und ich fragte sie, ob das wirklich ihr voller ernst sei? Ich war noch nicht an der Reihe und wartete geduldig, während mein Blick durch den Laden schweifte. Da standen schon die ersten Fasnachtskiechli zwischen Schokohasen und das letzte Dickmacher-Marzipan-Glücksschwein, das sehnlichst darauf wartete, mich am Silvesterabend als Tischdekoration anzugrinsen. Als ob es nicht schon reicht, dass im Oktober Weihnachtskugeln in den Regalen herum baumeln und im November der Nikolausi in den grossen Einkaufsläden Kinderaugen bereits zum Leuchten bringt. Der Verkauf kann nicht früh genug beginnen und die Läden machen wieder einen auf Kasse klingeln.

Vorfreude ist ja bekanntlich die grösste Freude. Aber sind wir denn wirklich schon so weit, dass auf Tradition kein Wert mehr gelegt wird? Dass in der heutigen Zeit alles noch schneller gehen muss ist eines. Aber welcher Sinn soll dahinter sein, dass vor Silvester die ersten Fasnachtskiechli im Regal geduldig auf ihre Abnehmer warten und Schokohasen bereits in der ersten Reihe sitzen? Geht es denn wirklich nur darum, dass es der Wunsch der Kunden ist. Anscheinend stimmt hier Angebot und Nachfrage. Ich denke meine Sache und staune, wie sich die Fasnachtsküechli in dieser kurzen Zeit wie warme Weggli verkaufen.

'Und wenn es wahrscheinlich nach der neusten Kundenumfrage geht, wollen alle am liebsten schon im Sommer ihre Weihnachtsdekoration einkaufen?', erläuterte ich. Anscheinend bin ich die Einzige die das nicht begreift, denn ich diskutiere weiter mit der Touristin über Sinn und Unsinn. Ich bohre weiter. 'Was hat das noch mit Tradition zu tun? Geht es denn hier wieder nur ums Geld und Hauptsache so früh wie möglich Umsatz bolzen?' Ich nerve weiter und die ersten Kunden hinter mir murmeln etwas von altmodisch und nicht mit der Zeit gehen. Pah von wegen, denke ich! Zu meiner Zeit konnte ich es kaum erwarten, bis ich das erste Fasnachtskiechli nach dem Morgestraich essen durfte. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass es schon Wochen vor der Fasnacht irgendwelche gab. Damals war Tradition noch gross geschrieben. Heute ist alles anders.

Ich stand immer noch in der Bäckerei und wollte unbedingt dieses letzte Marzipan-Glücksschwein ergattern. Wahrscheinlich steht es schon seit dem letzten Sommer hier. Kann ja nicht früh genug sein. Ich überlege mir wie lange es denn schon vor sich hin vegetiert und ob ich mir daran nicht die Zähne ausbeisse. Egal. Für mich ist es Tradition am Silvester ein Marzipan-Glücksschwein auf dem Tisch zu haben. Gerade als ich meine Bestellung aufgeben will, drängt sich ein Kunde dazwischen. Nicht nur das er seinen Satz mit, 'ich kriege eine Schachtel Fasnachtsküchle' begonnen hat, sondern ihn im gleichen Atemzug 'und dieses Marzipan-Schweinchen gleich bitte dazu' beendete. Ade Marzipan-Glücksschwein. Ade Tradition. Ade Bäckerei.

Und die Moral der Geschichte: Ich werde einmal mehr wieder bestraft, weil ich vor lauter philosophieren über Tradition, Sinn und Unsinn auf der Strecke bleibe. Mein traditionelles Marzipan-Glücksschwein darf auf einem anderen Tisch grinsen und ich fühle mich als Buh-Frau der Nation, weil ich nicht mit der Zeit gehe.

am 7. Januar 2010 - 13:38 Uhr, aktualisiert 21. Januar 2019 - 01:35 Uhr