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Der ganz normale Wahnsinn

«Noch keine Lehrstelle?»: Der Konkurrenzkampf unter Teenie-Eltern

Gewisse Dinge ändern sich nie. Zum Beispiel dass gewisse Eltern den starken Drang verspüren, ihr eigenes (perfektes) Kind mit anderen (unperfekten) Kindern zu vergleichen. Früher tönt das so: «Was, er kann noch nicht laufen?» oder «also, meine konnte schon mit vier lesen». Jahre später klingt es so: «Ach, er macht keinen Sport?» oder «jetzt hat meine doch tatsächlich schon wieder eine Klasse übersprungen.» Unsere Familienbloggerin bedankt sich an dieser Stelle für alle gut gemeinten Tipps für sie und ihre unperfekten Kinder und bittet darum, sie künftig zu verschonen.

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Sandra Casalini, bei sich zu Hause in Thalwil, mit ihren Kindern Gian und Joya, am 04.12.2018, Foto Lucian Hunziker

Unsere Familienbloggerin findet es nicht so tragisch, dass ihr Sohn noch keine Lehrstelle hat und die Tochter eine Klasse wiederholen musste.

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Etwas, das ich am wenigsten vermisse, jetzt wo meine Kinder grösser sind, ist dieser Drang von gewissen Eltern - zugegebenermassen in erster Linie Mütter -, ihre perfekten Kinder mit meinen unperfekten zu vergleichen. Ich hab mich zwar nie echt davon stressen lassen, aber ich fands doch brutal nervig, immer wieder zu sagen, dass, nein, Kind 1 noch nicht lesen kann im Kindergarten, Kind 2 noch Windeln braucht mit zwei Jahren und beide Kinder nicht ins Früh-Englisch gehen, dafür das eine in die Logopädie, weil es lispelt. Und dass ich das alles voll in Ordnung finde. Liebe Mütter, die ihr mir damals so hilfreiche Tipps gegeben habt, wie Kinder schneller trocken werden oder lesen lernen: danke. Kind 1 kann seit geraumer Zeit lesen. Kind 2 trägt schon ziemlich lange keine Windeln mehr, und mit dem Lispeln hat es aufgehört. Und Englisch haben sie auch gelernt. In der Schule.

Andere Kinder sind immer noch perfekt

Warum ich das hier erzähle? Weil ich mich gerade öfter wieder in diese Zeit zurückversetzt fühle. Gewisse Dinge ändern sich offenbar nie. Andere Kinder sind immer noch perfekt. Meine sind es immer noch nicht. Mir ist beides immer noch recht egal. Anderen ist es das immer noch nicht. So wiederhole ich folgende Sätze momentan ziemlich oft: Nein, er hat noch keine Lehrstelle. Er hat noch nicht mal eine Ahnung, was er eigentlich will. Ja, ich weiss, dass er nur noch ein halbes Jahr zur Schule geht und wir dann irgend eine Lösung haben müssen.

«Nein, ich bin nicht gestresst, weil ich zwei Kinder dreimal pro Woche in irgendwelche Trainings und am Wochenende zu Wettkämpfen chauffieren muss. Denn nein, sie machen nicht Sport auf Leistungsniveau. Und ja, das ist für mich voll okay.»

Ja, sie geht ans Gymnasium. Ja, sie hat tolle Noten. Nein, vierte Klasse, nicht fünfte. Weil sie ein Jahr wiederholen musste. Nein, das war nicht schlimm für mich, warum sollte es. Nein, ich bin nicht gestresst, weil ich zwei Kinder dreimal pro Woche in irgendwelche Trainings und am Wochenende zu Wettkämpfen chauffieren muss. Denn nein, sie machen nicht Sport auf Leistungsniveau. Und ja, das alles ist für mich voll okay. Aber danke für die Tipps.

Danke für eure Tipps ... oder auch nicht

Liebe Teenie-Eltern, ich mag jeder und jedem von euch gönnen, dass euer Kind direkt bei der ersten Schnupperlehre seine Traum-Lehrstelle abstaubte und nicht mal mehr eine Bewerbung schreiben musste. Oder dass euer Kind schon in der Primarschule eine Klasse übersprang, im Gymnasium nochmal und jetzt mit 16 die Matura macht. Oder dass euer Kind für irgend ein Tennis- oder Judo- oder Schwimm-Kader selektioniert wurde und vermutlich in vier Jahren an Olympia teilnimmt. Von Herzen. Und ich weiss, dass ihr es nur gut meint mit hilfreichen Tipps, wie denen, dass Lehrmeister doch mehr auf Persönlichkeit achten als auf gute Noten (was willst du mir damit sagen? Dass mein Kind, im Gegensatz zu deinem, beides nicht hat?) oder dass man sich am Gymi halt wirklich schampar anstrengen muss (wenn man nicht so superschlau ist wie dein Kind, sondern nur normal gescheit wie meines?).

Aber es ist so: Meine Kinder sind vielleicht nicht so perfekt wie eure. Und sie wissen, dass sie das nicht sein müssen, damit ich sie liebe. Wissen eure das auch?

Familienbloggerin Sandra C.
Sandra CasaliniMehr erfahren
Von Sandra Casalini am 12. Februar 2022 - 17:19 Uhr