Die Schule geht wieder los! Und damit sind Mütter und Väter von der Aufgabe des Privatunterrichts entbunden. Jetzt folgt das grosse Aufatmen, der Frust hat ein Ende – oder?
Ja, ein Grossteil der Eltern ist bestimmt erleichtert, dass der Zusatzaufwand wegfällt. Es gibt jedoch auch Familien, die würden gerne noch ein wenig im Lockdown-Modus weitermachen. Es scheint, als habe der Corona-Ausnahmezustand ein Umdenken angestossen. Zumindest beobachtet Willi Villiger, 63, Präsident des Vereins Bildung zu Hause Schweiz, eine merkbare Zunahme der Anfragen betreffend Homeschooling.
Herr Villiger, wie stark hat das Interesse am alternativen Bildungskonzept Homeschooling zugenommen?
Einerseits haben wir natürlich mehr Medienanfragen, andererseits verzeichnen wir aber auch einen Anstieg an Vereinsmitgliedschaften oder Anfragen beim Verein. Wir ordnen das eindeutig der Corona-Zeit zu.
Die letzten zwei Monate waren für Eltern ja wie eine Art Schnupperlehre in Homeschooling.
Die Eltern haben ihre Kinder beim Distance Learning unterstützt. Sie effektiv zu homeschoolen ist natürlich eine andere Geschichte. Aber ja, die Corona-Zeit hat vielen Familien die Möglichkeit gegeben, etwas auszuprobieren, an dem sie vielleicht sowieso schon herumstudiert haben. Das kann für den definitiven Entscheid, ob man seine Kinder zu Hause unterrichten will oder nicht, ausschlaggebend sein.
Welche positiven Effekte des Homeschoolings beobachten die Eltern, die sich bei Ihnen melden?
Viele Familien funktionieren ja heutzutage nur noch als eine Art Hotelbetrieb: Die Jugendlichen sind dauernd auf Achse: Hohe Präsenzzeiten in der Schule, familienextern organisierte Freizeitaktivitäten und Abhängen mit der Clique, einer Art Familienersatz. Verschärft wird die Situation oft durch die arbeitsbedingte Abwesenheit eines oder beider Elternteile, sodass ein eigentliches Familienleben mit einer je eigenen Familienkultur kaum mehr zustande kommt. Die Corona-Krise hat diesem Lebensstil ein abruptes Ende gesetzt und die Familienmitglieder lernen sich plötzlich in einer ganz neuen Art kennen. Bei einigen scheint dies vor allem Stress auszulösen, jedoch hören wir auch vom Gegenteil: Die Kinder würden plötzlich wieder «normal» und man erkenne in ihnen wieder die «eigenen Kinder», nachdem sie vorher einem ständig grösser werdenden Entfremdungsprozess ausgesetzt waren. Plötzlich ist man sich wieder nahe und merkt, dass sich das auch auf die Lernfortschritte der Kinder auswirkt.
«Meine Frau und ich haben damals unter Zittern den Schritt zum Homeschooling gewagt.»
Willi Villiger, Präsident des Vereins Bildung zu Hause Schweiz
Inwiefern?
Dass die Lernfortschritte deutlich schneller vonstatten gehen, liegt auf der Hand, denn viele störende Faktoren fallen automatisch weg. Diese Fortschritte gelingen umso besser, wo die Eltern-Kind-Beziehung intakt ist und die Jugendlichen 1:1 betreut werden: Dies kann nur gute Ergebnisse zeigen! Und das spiegelt sich übrigens auch in kantonalen Gesetzgebungen, welche beim Homeschooling nur einen Bruchteil an Unterrichtszeit vorschreiben von der Zeit, die an der Volksschule verbracht wird.
Sie und Ihre Frau haben selber zehn Kinder zu Hause unterrichtet. Wie haben Sie damals den Entscheid gefällt?
Unsere ältesten Kinder gingen zunächst in die öffentliche Schule, bei zwei von ihnen empfanden wir die Verhältnisse jedoch als unbefriedigend. Als wir während eines Auslandaufenthalts mit der Homeschool-Bewegung in Berührung kamen, trauten wir uns nach der Rückkehr in die Schweiz diesen Schritt unter Zittern und Zagen zu.
Ist es denn gut herausgekommen?
Ich denke, das kann man sagen. Alle haben den Anschluss in die Sekundarstufe geschafft: Zwei sind Primarlehrerinnen, eine Kleinkindererzieherin, einer Gymnasiallehrer, einer Arzt, zwei studieren noch, einer lernt Automobilfachmann. Der Zweitjüngste hat eben die Aufnahmeprüfung an die Informatikmittelschule mit der Note 5.3 geschafft und die Jüngste ist noch in der sechsten Klasse – zu Hause.
«Elterlicher Privatunterricht sollte nur angepackt werden, wenn die entsprechenden Ressourcen vorhanden sind.»
Willi Villiger
Denken Sie, das Distance-Learning während der Corona-Pandemie könnte in der Schweiz einen Homeschooling-Boom auslösen?
Eltern können nun den Aufwand besser abschätzen. Insbesondere, was die Primarstufe betrifft, kann man zur Einsicht kommen, dass man den normalen Unterrichtsbetrieb mit relativ wenig Aufwand auch selber zustande bringen könnte. Auch scheint beim aktuellen Fernunterricht deutlich mehr Freizeit rauszuspringen für die Kinder, was beim klassischen Homeschooling ja auch der Fall ist. Homeschooling wird jedoch nie eine Massenbewegung sein, sondern einfach eine Bildungsalternative neben Privat- und Volksschulen. Noch ist nicht absehbar, wie die aktuellen Zahlen sich verändern werden, denn die Entscheidung für elterlichen Privatunterricht wird in der Regel ja nicht kurzfristig, sondern nach einer längeren Entscheidungsphase getroffen.
Würden Sie Homeschooling allen Familien empfehlen?
Nein. Elterlicher Privatunterricht sollte nur angepackt werden, wenn die entsprechenden Ressourcen vorhanden sind. Intakte Familienverhältnisse und strategische Planung dieses Lebensentwurfes scheinen mir unabdingbar zu sein. Es braucht die Bereitschaft, als Erwachsener selber wieder Lernender zu werden, es braucht Pioniergeist, Begeisterung und auch Opferbereitschaft. Die persönliche Karriere und Hobbys gehören hinten angestellt und finanzielle Einbussen können durchaus daraus folgen, auch wenn der finanzielle Aufwand gering ist.
«Wir stellen fest, dass sich Homeschooler zu belastbaren Leuten entwickeln.»
Willi Villiger
Wie steht es mit der Sozialisierung?
Dieses Problems sind sich die allermeisten Homeschooler-Eltern bewusst, denn diese Befürchtung steht während der Entscheidungsphase oft im Vordergrund. Es ist deshalb einer der Vereinszwecke, diesem ausgeprägten Bedürfnis Rechnung zu tragen, dass sich die Familien untereinander vernetzen können und dass die angestrebte soziale Durchmischung möglich wird. Ausserdem bin ich der Meinung, dass Sozialisierung nicht in erster Linie in der Peer Group stattfindet.
Sondern?
In der Familie. Jene Eigenschaften, die tragfähige und intakte Beziehungen erst ermöglichen, erlernt man zuallererst in der Familie mit den eigenen Geschwistern, und generationenübergreifend mit den Eltern und Grosseltern. Nirgends sonst. Wenn es zuhause mit den engsten Angehörigen nicht klappt, wo und wie soll es dann sonst einmal klappen? Klar vermittelt die Schule, wie man sich in einer Gruppe durchsetzt oder sich gegen Mobbing wehren kann, aber diese Dinge lernen Jugendliche sehr schnell und lernen wir lebenslang! Hingegen nehmen viele Eltern die Sozialisierung, die in der Peer-Group geschieht, als eine Art Negativsozialisierung wahr. Entsprechend umstritten ist die Gleichaltrigen-Sozialisierung in der Pädagogik.
Wie wirkt sich die Sozialisierung in der Familie Ihrer Meinung nach auf die Entwicklung aus?
Wir stellen fest, dass Homeschooler sich zu belastbaren Leuten entwickeln, denen man vertrauen kann und die auf ihre eigenen Fähigkeiten vertrauen. Sie hatten die Möglichkeit, in der entscheidenden Lebensphase und in einem geschützten Umfeld wertvolle und tragfähige Softskills zu entwickeln und zu verinnerlichen.
Was ist der häufigste Grund, weswegen Eltern entscheiden, ihre Kinder selber zu unterrichten?
Manchmal ist es die lokale Schulsituation, welche nicht optimal ist. Was wir aber als die mit Abstand am häufigsten geäusserte Begründung zu hören bekommen, ist die Sorge, dass Kinder in der Schule ihre natürliche Lernfreude verlieren könnten. Oder positiv ausgedrückt: Die Kinder sollen in ihrem eigenen Lerntempo und möglichst von ihren aktuellen Interessen geleitet lernen können.