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  4. Familienstreit an Weihnachten: Wenn Kinder keine Küsse möchten

Alle Jahre wieder …

So bewahrt ihr eure Kinder vor Schlabber-Küssen

Sie umarmen zu fest, sie schlabbern zu sehr und sie verstehen oft kein «Nein». Die Rede ist von Verwandten und Freunden, die euren Kindern sehr nah kommen, auch wenn diese das nicht möchten. Was ihr in solchen Situationen tun könnt, hat uns der Experte verraten. Spoiler: Es ist kompliziert.

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Photo of a cheerful grandparents spending Christmas with their grandson

Im besten Fall haben Kinder nichts gegen Küsse und Kitzeleien von Familie und Bekannten.

Getty Images

Eltern haben die Aufgabe, ihre Kinder zu beschützen. Was aber soll man tun, wenn einem das Kind während des Verwandtschaftsbesuchts ins Ohr flüstert, dass es von Tante Vreni und Opi Hans nicht ständig geknutscht, gedrückt und gekitzelt werden möchte? Im Wissen darum, dass Familien schon wegen viel Banalerem zerbrochen sind, bringen solche Situationen Mütter und Väter in die Bredouille.

Erste Reaktion: «Halt, stopp, fass mein Kind nicht mehr an!» Und jetzt das Ganze bitte nochmals mit weniger Ausrasten und mehr Feingefühl. Doch wie?

Schwierigkeiten mit Nähe und Distanz

Es scheint, als ob Erwachsene von Kindern in einen magischen Bann gezogen werden, aus dem sie sich kaum lösen können. «Kleine Kinder haben die Fähigkeit, bei Erwachsenen etwas auszulösen. Dies ist ganz natürlich, da sie schutzbedürftig sind», sagt Philipp Ramming, Fachpsychologe und Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie. Gleichzeitig hätten die Grossen oft Schwierigkeiten mit Nähe und Distanz. Man denke nur mal an all die fremden Hände, die gerne ungefragt in Kinderwagen reinfassen.

Wenn zu schnell zu viel Nähe aufgebaut wird, fühlen auch wir Erwachsene uns zuweilen unwohl, Kinder erst recht. Wer welche kennt, weiss, dass sie meist ein bisschen Zeit zum Auftauen brauchen, bevor sie auf den Schoss ihres Gegenübers möchten. Dies passiert sogar den besten Eltern. Heisst das nun, dass das Kind sie nicht mag? Ziemlich sicher nicht.

«Wir müsen zwischen sozialer Ungeschicklichkeit, Bedürfnisbefriedigung und sexuellem Übergriff unterscheiden.»

Philipp Ramming, Kinder- und Jugendpsychologe
«Das Kind trägt keinen Schaden davon»

«Nähe und Zuneigung wird von Mensch zu Mensch verschieden aufgefasst. Die Herausforderung ist, herauszufinden, was Eltern und Kinder dem sozialen Frieden zuliebe aushalten wollen», so Ramming.

Wir möchten unsere Kinder zu selbstbestimmten Wesen erziehen, die jederzeit «Stopp» sagen können. Wir wollen sie vor schlimmen Dingen und bösen Menschen bewahren, ihnen das Rüstzeug in die Hände geben, sich wehren zu können. Ist es dann nicht kontraproduktiv, sie an Familienzusammenkünften trotzdem (auch nur leicht) in Richtung Grosi zu schubsen, damit sie ihr den erhofften Kuss endlich geben?

«Das denke ich nicht», sagt Ramming. «Für ein Kind ist es meiner Meinung nach viel unangenehmer, einem ungeliebten und gemeinen Lehrer jeden Tag die Hand schütteln und in die Augen schauen zu müssen, als das Grosi ab und zu ein paar Sekunden lang zu umarmen und sich einen Kuss auf die Backe drücken zu lassen.» Letzteres könne man als Dienstleistung des Kindes sehen, erklärt er.

Ambach, Germany

Wenn Erwachsene und Kinder sich Zeit lassen und nichts forcieren, kann daraus eine wunderbare Beziehung werden.

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Ein Scherz ist es, wenn beide lachen

Eltern könnten jetzt die Haare zu Berge stehen. Ramming versichert: «Auch ich finde es sehr unangenehm, Kinder dazu zu zwingen, jemanden zu küssen, besonders wenn diese Person Mundgruch oder einen Schnauz hat.» Begrüssungen seien aber ein soziales und kulturelles Ritual, das man lernen sollte. Einen Schaden würden sie davon nicht ragen.

«Wir müsen zwischen sozialer Ungeschicklichkeit, Bedürfnisbefriedigung und sexuellem Übergriff unterscheiden», sagt der Psychologe. Haben die Leute selten mit Kindern zu tun und wissen deshalb nicht, wie man sich ihnen gegenüber richtig verhält? Oder könnte es sein, dass Grosi im Alltag nur wenig körperlichen Kontakt hat und dieses Defizit nun mit eurem Kind aufwiegen will? Oder besteht tatsächlich ein sexuelles Problem, das ganz klar grenzüberschreitend ist? «Einem Kind im Vorbeigehen zum Beispiel auf den Hintern zu tätscheln, so dass es erschrickt, ist für mich nicht okay, auch nicht, wenn es als Scherz gemeint war.» Genau, ein Scherz ist es nämlich dann, wenn beide lachen.

Wenn also ein Kind «Nein!» sagt, dann soll es losgelassen werden. Wenn es sich gegen zu viel Nähe wehrt, heisst das «Stopp!» Wenn Erwachsenen das nicht verstehen, ist es die Aufgabe der Eltern, angemessen einzugreifen.

Die ältere Generation muss erst an die neue Art der Erziehung herangeführt werden.

Die Situation mit Humor entschärfen

Man kann das Kind im Vorfeld schon darauf vorbereiten, dass man am Familienfest auf die schlabberküssende Verwandtschaft trifft. «Kindern kann dies helfen, sich auf eine Situation vorzubereiten und nicht zu erschrecken, wenn sie von jemandem in den Arm genommen werden.» Wenn wir das hören, wäre es vielleicht auch sinnvoll, die Verwandten darauf vorzubereiten, dass eure Kinder etwas schüchtern sind und es besser wäre, sachte an sie heranzutreten. Zum Beispiel mit der Frage «Darf ich dich in den Arm nehmen?»

«Der beste Tipp, den ich geben kann, ist, es mit Humor zu versuchen. Dies entschärft die Situation, ohne sie zum Eskalieren zu bringen», sagt Philipp Ramming. Statt forsch «Hör auf damit, Klein-Ben fühlt sich ja ganz unwohl!» zu rufen, wenn jemand das Kind umarmt, könnte man sagen: «Oh, hoppla, bei so viel Liebe bekommt ihr beide keine Luft mehr, mach lieber ein bisschen lockerer».

Uns ist bewusst, dass die ältere Generation erst an die neue Art der Erziehung herangeführt werden muss. Sie müssen verstehen, dass wir unseren Kindern mehr Raum geben, ihre eigenen Bedürfnisse zu äussern. Dies beinhaltet auch, dass wir als Töchter und Söhne unserer Eltern von ihnen ernst genommen werden. Dazu braucht es eine offene Kommunikation und gegenseitigen Respekt.

Von Edita Dizdar am 24. Dezember 2019 - 16:18 Uhr