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Mobbing im Klassenzimmer

Verzweifelte Eltern nehmen Kind von der Schule

Zwei Mobbing-Fälle an einer Zürcher Schule geben zurzeit zu reden. Hat Gewalt an der Primarschule zugenommen? Thomas Brunner, Sozialpädagoge bei Pro Juventute, räumt mit einigen Missverständnissen auf und zeigt, wie sich die Mobbingdynamik durchbrechen lässt.

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Displeased female student bullied by her classmate standing alone in a hallway.

«Mobbing ist immer ein Gruppenphänomen», sagt Experte Thomas Brunner.

Getty Images

Ein 6-jähriger Schüler soll seit einer Weile an einer Stadtzürcher Schule gemobbt werden. Er werde geschlagen und bedroht, sogar über seine Turnkleider hätte man ihm gepinkelt. «Ich habe Angst um mein Kind. Es könnte durch die Übergriffe nicht nur psychischen Schaden, sondern körperlich schwere Verletzungen davontragen» sagt der Vater zu 20 Minuten. Mehrfach habe er bei der Schulleitung um Hilfe gebeten, doch diese hätte den Fall nicht ernst genommen. Im Gegenteil: Sie hätte die Fehler bei dem 6-Jährigen gesucht und dem Vater inkorrektes Verhalten vorgeworfen. Mittlerweile sei ihm nur eine Lösung geblieben, umzuziehen und die Schule zu wechseln.

Wie die Zeitung weiter schreibt, ist dies nicht der einzige Fall. Auch die Mutter eines 8-jährigen Kindes erhebt gegenüber der Schulleitung schwere Vorwürfe. «Es wurde in diesem Jahr über sechs Monate erst von zwei Mitschülern und in kürzester Zeit von der ganzen Halbklasse gemobbt», zitiert sie 20 Minuten. «Es wird praktisch nichts unternommen.» Auch in dem Fall würde gemäss der Mutter versucht, die Schuld dem Opfer in die Schuhe zu schieben.

Nun rechtfertigt sich Gabriela Rothenfluh, Präsidentin der Kreisschulpflege Waidberg, und sagt der Zeitung: «Die Lehrperson hat gemäss den schulinternen Vorgaben gehandelt und unverzüglich die Schulsozialarbeiterin informiert und involviert». Mit der betroffenen Gruppe hätte man über längere Zeit intensiv gearbeitet. «Die Situation verbesserte sich aus Sicht der Schule stetig und normalisierte sich schlussendlich ganz», so Rothenfluh.

Weggkommen vom Täter-Opfer-Muster

Mobbing an der Schule kommt öfter vor, als man denkt: Mehr als 60 Prozent der «SI online»-Leserinnen und Leser haben bei unserer Umfrage angegeben, dass ihr Kind schon einmal gemobbt wurde. Eine Frage, die in der Diskussion auf Social Media viele beschäftigte: Warum liegt der Fokus vor allem auf dem Opfer und weniger auf dem Täter? 

«Wir müssen vom simplen Täter-Opfer-Muster wegkommen. Mobbing ist immer ein Gruppenphänomen», sagt Thomas Brunner, 47, Sozialpädagoge bei Pro Juventute. 

Jedes Kind kann gemobbt werden

Ob gross oder klein, dick oder dünn, mehr oder weniger intelligent: «Jedes Kind kann gemobbt werden», erklärt Brunner. Dabei gehe es nicht darum, dass gewisse Kinder eher im Mittelpunkt stünden und andere eher Aussenseiter seien. Erst die entsprechende Gruppendynamik setzt Mobbing in Gang.

Zur klassischen Mobbing-Konstellation zählen daher ein Aggressor, ein Opfer und das, was Mobbing erst ausmacht: die Mitläufer, welche den Aggressor in seinem Verhalten bestätigen. Das Mobbing-Opfer wird dabei über längere Zeit gezielt von dieser Gruppe schikaniert und herabgesetzt.

Die Frage: Wie kann ich mein Kind vor Mobbing schützen oder was kann man gegen den Täter tun, ist daher der falsche Ansatz. «Mobbing lebt davon, dass alle schweigen; Täter, Opfer und Mitläufer. Diese Schweigespirale gilt es zu durchbrechen. Wo Mobbing nicht geduldet wird, sondern man aufeinander achtet, hat niemand die Möglichkeit, einen anderen fertig zu machen und das ist die Voraussetzung, dass Mobbing erst gar nicht entstehen kann», so Brunner.

Darum werden Kinder zu Mitläufern

Der Ablauf ist immer derselbe: Ein Aggressor geht auf ein Kind los. Zwei, drei oder mehrere Mitläufer finden das lustig und steigen ein. «Das kann passiv oder aktiv sein. Passiv, wenn niemand sich für das Opfer einsetzt und das Geschehen schweigend akzeptiert wird. Aktiv, in dem man den Aggressor imitiert und das Opfer auf ähnliche Weise plagt», erklärt Brunner.

Das Problem an dieser Gruppendynamik: «Die Mitläufer erkennen meist sehr genau, dass das Opfer ohne wirklichen Grund geplagt wird. Also kann es jeden treffen – und was, wenn es als nächstes mich trifft? Da steht man lieber auf der Seite des Aggressors und gehört beispielsweise zu jenen, die auslachen und nicht jenem, der ausgelacht wird», so der Sozialpädagoge. Und weiter: «Würde ein Kind sagen: Hey spinnt ihr eigentlich, was läuft da?›  wäre diese Dynamik durchbrochen. Doch das braucht Mut.»

Opfer können ein Leben lang an den Folgen leiden

Wird ein Kind also tatsächlich gemobbt, ist der Schaden bereits gross. «Opfer können ein Leben lang an den Folgen von Mobbing leiden. Es kann die ganze Biografie verändern. Man kann Mühe haben, sich in eine Gruppe zu integrieren oder entwickelt Beziehungsängste», sagt Brunner.

«Unser Umgangston ist generell ruppiger geworden»

Besser wäre daher, Mobbing erst gar nicht entstehen zu lassen. «Mobbing müsste in der Schule standardmässig besprochen werden. Das findet vielerorts bereits in Form des Klassenrats oder durch die Arbeit von Schulsozialarbeitenden statt. Gelegenheiten, wo man im Idealfall offen über alles reden kann, was die Klasse beschäftig.» Im Hinblick auf Mobbing wären folgende Abmachungen hilfreich: Bei uns wird nicht geschwiegen, wir reden darüber, wenn wir Unrecht sehen, empfiehlt der Experte.

Der Sozialpädagoge blickt auch über den Tellerrand der Schule hinaus und sagt: «Mobbing ist ein gesellschaftliches Phänomen. Unser Umgangston ist generell ruppiger, Pauschalverurteilungen und despektierliche Angriffe sind salonfähig geworden. Wer disst, ist cool, gilt nicht nur bei den Kindern. Darüber müssten wir mal nachdenken.»

Von Maria Ryser am 18. November 2019 - 18:00 Uhr