In meiner letzten Kolumne habe ich den Verlust und das Rasertum meiner Geliebten, der Zeit, beklagt. Wo rast sie hin? Weder Radarfallen noch Laserpistolen sind ihr gewachsen. Sie entwischt da und dort. Fehlt mir die Zeit am Tag, könnte ich ja die Nacht verwenden. Aber auch da entwischt sie. Ich nehme weiter ihre Verfolgung auf.
Tröstlich, dass ich mit meinem Projekt nicht allein bin. Florian Opitz, ein deutscher Journalist, litt ebenfalls unter Zeitanämie, und er ging der Sache derart intensiv nach, dass schliesslich ein Dokumentarfilm daraus entstand. «Speed - auf der Suche nach der verlorenen Zeit». Dieser Film hat mir im ersten Teil kaum Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihr gemacht, denn die Beschleunigung ist längst aus dem Ruder gelaufen. Der Mensch hat Maschinen gebaut, die ihm in Sachen Informationsaufnahme, Situationsanalyse und Reaktionszeit weit überlegen sind. Sie sind in der Lage, im weltweiten digitalisierten Finanzgeschäft selbstständig in Bruchteilen von Sekunden zu agieren. Und sie tun es auch. Der Schnellere ist der Geschwindere und räumt ab. In diesem Business haben Zauderer nichts verloren. Da wird unaufhörlich Geld von einem Haufen auf den anderen gebeigt - als reiner Selbstzweck.
Gewinn ist das Ziel der Krawattennadel-Fraktion, nicht Barmherzigkeit
Das könnte uns ja wurscht sein, wenn ein paar grosse Bubis ein bisschen herumspielen. Aber sie nehmen damit empfindlichen Einfluss auf unser Leben. Wohn- und Benzinkosten, der Marktwert jedes Einzelnen von uns und auch der Wert unserer Nahrung werden damit völlig frei von Emotionen definiert. Der Mensch bedauert es anschliessend schulterzuckend an Pressekonferenzen, wenn bei diesen Gamereien ein ganzer Landstrich voller Leben schlecht weggekommen und ein Schlamassel mehr angerichtet ist. Weshalb sollte er betroffen sein? Es liegt ja nicht in seiner Verantwortung. Da ist eine höhere Macht im Spiel, welche nicht auf Gewissensfragen programmiert worden ist. Und mathematisch irren tut sie nicht. Was solls? Elend hat es schliesslich immer gegeben. Die Auswüchse werden als Schicksal hingenommen. Auf den Gedanken, dass man diese turboklugen Maschinchen genau dafür einsetzen könnte, die Nahrungsverteilung zu übernehmen und damit auch Seuchen, Landflucht, Gewalt und anderen Sorten der Verwahrlosung Einhalt zu gebieten, darauf scheint die Krawattennadel-Fraktion nicht zu kommen. Gewinn ist das Ziel, nicht Barmherzigkeit. Ich schliesse daraus: Wir Menschentiere sind allesamt zu Zombies geworden, die ins Feuer ihrer eigenen Gier blasen, bis es sie aus dem Kamin spuckt. Alle?
Nein! Ein kleines Volk von Aufständischen gibt es, das sich dem Diktat der Wirtschaftsjunkies widersetzt: Bhutan. Eingeklemmt zwischen Indien und China liegt es, und flächenmässig ist es etwas kleiner als die Schweiz. Es hat knapp einen Zehntel der hiesigen Einwohnerschaft und eine beeindruckende Geschichte aufzuweisen: Nachdem er sein Land aufgeräumt hatte, entmachtete der König vor wenigen Jahren sich selbst, und seither hat Bhutan das «Bruttonationalglück» in seiner Verfassung verankert. Mit Ecuador zusammen gehört es zu den einzigen Ländern, die verfassungsmässig kein Wirtschaftswachstum anstreben! Dieser zweite Teil des Films gibt mir neue Thermik. Selbstzerstörung kann nicht unser Lebenszweck sein. In Bhutan hat man beschlossen, sich gelassen von diesem Wahn abzuwenden.
Bei uns ist Herbst, und ich bin ein weiteres Mal mit einer Todesanzeige konfrontiert worden. Ein einzigartiger Kopf denkt und spricht nicht mehr. Ich nehme mir Zeit, die Lebensschnur zu betrachten. Versuchen Sie das auch einmal, liebe Leserin, lieber Leser.
Sie legen eine etwa 83 Zentimeter lange Schnur vor sich hin (rechnen wir optimistisch mit gut 80 Jahren Lebenserwartung, Frauen etwas mehr). Dann nehmen Sie einen Massstab und machen bei Ihrem aktuellen Alter einen grossen Knopf in die Schnur - in meinem Fall ist das bei 63 cm. Dann nehmen Sie sie gestreckt in die Hände und betrachten sie. Links ist die bereits vergangene, gelebte Zeit und rechts das, was noch vor Ihnen liegt – wenn alles rundläuft. Ich bin sicher, Sie werden innehalten! Bei mir folgt jedes Mal der Entschluss, ab sofort Platin durch meine Lebenssanduhr rinnen zu lassen.
...und so fragte Heinrich VIII. seinen Günstling, den Duke of Suffolk: «Welcher Verlust, denkt Ihr, ist unwiederbringlich für einen Menschen? Den der Tugend? Nein, durch würdige Taten kann man Tugend wieder gewinnen. Dann die Ehre? Nein, denn auch die Ehre ist wiederherstellbar durch ehrbares Verhalten, so wie man auch verlorene Güter zurückerhalten kann.» - «Was ist es dann, Majestät?», fragte der Duke. «Zeit, Euer Gnaden, Zeit! Der Verlust, der unwiederbringlich verloren geht, ist die Zeit, die im Leben vergeht.»
Die Verfolgung der Zeit hat viel von ihr in Anspruch genommen. Sie war es wert. Für eine Geliebte ist mir der Tag nicht zu schade.