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«Senkrecht» mit Natascha Knecht

Mehr Gelassenheit, bitte

Natascha Knecht, 48, Journalistin und Alpinistin, Buchautorin und Bloggerin, sinniert über ihre abenteuerliche Reise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln.

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Natascha Knecht

Natascha Knecht, 48, Journalistin und Alpinistin, Buchautorin und Bloggerin.

Geri Born

Pünktlich wie ein Schweizer Uhrwerk verlässt der Intercity um 7.02 Uhr den Zürcher Hauptbahnhof Richtung Bern. Trotz hoher Belegung finde ich einen freien Sitzplatz – gleich neben der Gepäckablage bei der Tür, wo ich meinen schweren Bergsteigerrucksack mit den Eispickeln deponiere. Laut Fahrplan werde ich in eineinhalb Stunden in Spiez sein und dort meinen Kletterfreund treffen. Wir wollen die winterliche Stockhorn-Nordwand durchsteigen. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahne: Nach Spiez zu gelangen, kann anstrengender sein als jede Bergtour.

Während der Zug durch das Mittelland pfeift, bleibt es wunderbar still im Wagen. Alle dösen vor sich hin, bis uns eine Computerstimme über die Lautsprecher weckt und informiert, dass wir pünktlich in Bern eintreffen. Ich kann sitzen bleiben und eine halbe Stunde weiterdösen. Doch in Bern ist Schluss mit der Ruhe. 

Eine enorme Menschenmenge wartet auf dem Perron und will einsteigen. Allen voran eine Frauenvereinsgruppe in Skimontur. Ihre Anführerin drängelt voraus und ellbögelt sich in den Zug, als ginge es um Leben und Tod. Bei der Tür angekommen, erblickt sie meinen grossen Rucksack in der Gepäckablage und fragt mich resolut: «Gehört er Ihnen?»  

Als ich bejahe, kriegt sie kaum noch Luft. «Nehmen Sie den weg!», befiehlt sie. «Dieser Platz ist für die Ski!» Ich versuche ihr zu erklären, dass dieser Platz für alle Gepäckstücke ist, nicht nur für die Ski. «Nein!», herrscht sie mich an. «Hier ist für die Ski!» Als sie merkt, dass sich der Wagen blitzschnell mit Leuten, Koffern und Wintersportgeräten füllt und ihre Gruppe keinen Sitzplatz bekommt, wenn sie nicht vorwärtsmacht, stellt sie ihre Ski neben meinen Rucksack. Geht doch!

Die Zugreise zum Berg kann anstrengender sein als die Bergtour

Mit zehn Minuten Verspätung fährt der Intercity weiter. Allerdings nicht lange. Er bremst ab und bleibt stehen. Ich denke mir nichts dabei, kann ohnehin nicht verstehen, weshalb sich die Leute fürchterlich aufregen, wenn der Zug ein paar Minuten Verspätung hat. Doch nach einer halben Stunde Stillstand sind ziemlich alle im Zug nervös. Ich ebenso. Mein Kletterfreund wartet in Spiez.

Irgendwann rollen wir im Zeitlupentempo am Bahnhof Kaufdorf vorbei. Wo sind wir? Ich muss googeln. Aha, im Gürbetal. Was machen wir hier? Keiner weiss, was los ist. Die Kondukteurin kommt, ihre Nerven liegen blank. Sie schimpft laut mit uns, weil bei der Treppe zum Oberdeck eine junge Mutter mit einem Säugling steht. Es sei eine Schande, dass niemand der Frau einen Sitzplatz anbiete. Einer wagt zu entgegnen, die Mutter könne ja etwas sagen. «Man soll nicht immer warten, bis jemand etwas sagt!», wettert sie und fordert ihn auf, «subito» Platz zu machen. Die Mutter will gar nicht sitzen, die Kondukteurin besteht jedoch darauf. Das Baby fängt an zu schreien und hört nicht mehr auf.

Drei Stunden ab Zürich treffe ich nudelfertig in Spiez ein – und bin für die Stockhorn-Nordwand reichlich spät dran. Wie schrieb Goethe: Man reist nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen. In diesem Sinne wünsche ich uns allen für 2018 etwas mehr Gelassenheit. Gerade in den öffentlichen Verkehrsmitteln.

Von Natascha Knecht (alt) am 8. Januar 2018 - 17:08 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 12:51 Uhr