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Notabene Peter Scholl-Latour

Eine Anwandlung von Torheit

Peter Scholl-Latour, 90, Nahost-Experte und Buchautor, über Verschwörungstheorien und die Aussenpolitik von US-Präsident Barack Obama.

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Peter Schull-Latour Nahost-Experte und Buchautor
Fabienne Bühler

Auf Landkarten der Ukraine finden wir in den Medien Angriffspfeile, die das Vordringen russischer Truppen signalisieren sollen. Dazu Schlagzeilen, wonach zusätzliche Nato-Bomber nach Estland in die unmittelbare Nachbarschaft von St. Petersburg eingeflogen wurden. Putins Einverleibung der Krim in die Russische Föderation wird von einem deutschen Minister mit der Zwangsannexion Adolf Hitlers verglichen, als er das Sudetenland «heim ins Reich» holte. Dementis fruchten da nicht viel.

Die Verschwörungstheorien häufen sich. Schon einmal hatte die US-Diplomatie, gestützt auf die CIA, während der orangenen Revolution versucht, die Ukraine dem Einfluss Moskaus zu entziehen. Ähnliches hat sich wiederholt, als die EU in einer Anwandlung von Torheit den Kreml herausforderte und der Ukraine ein wirtschaftliches Assoziationsabkommen anbot und damit Pläne Russlands vereitelte, auf den Trümmern der Sowjetunion wenigstens eine begrenzte euroasiatische Zone enger Zusammenarbeit zu erhalten, deren Kernstücke neben Russland, die Ukraine und Kasachstan gewesen wären.

Was treibt die Europäer und Amerikaner an, die Russen hinter die Wolga, ja den Ural zurückzudrängen? Bei einer rein wirtschaftlichen Verflechtung zwischen Brüssel und Kiew wäre es ja wohl nicht geblieben. Die Aufrührer auf dem Maidan streben die Aufnahme in die EU an und – was viel gravierender wäre - den Beitritt zur Nato. Wer bedenkt, wie sehr sich Russland heute schon durch das Vordrängen asiatisch-islamischer Kräfte in seiner bisherigen Einflusszone am Kaukasus, in Zentralasien und längs der Wolga bedroht fühlt und wie beängstigend der Bevölkerungsschwund der slawischen Siedlungsgebiete voranschreitet, sollte mehr Verständnis aufbringen für den von Putin gesteuerten Widerstand Russlands und dessen Bevölkerung.

Die Aussenpolitik von US-Präsident Obama gleicht einem «trunkenen Schiff»

Die tatarische Minderheit auf der Krim, die gern bei der Ukraine verblieben wäre, erinnert uns daran, dass diese südliche Bastion des Zarenreichs erst unter Zarin Katharina II. dem Osmanischen Reich entrissen wurde. Auf dem russischen Geschichtsbewusstsein lastet die Erinnerung an das «Tataren-Joch» der Goldenen Horde, das länger als zwei Jahrhunderte andauerte und dessen Befehlszentrum Seraj sich an der Wolga in unmittelbarer Nachbarschaft des späteren Stalingrad befand. Sind sich die Europäer überhaupt bewusst, das sie mit ihren ukrainischen Expansionswünschen bis auf dreihundert Kilometer an dieses Symbol deutscher Anmassung und deutschen Untergangs heranrücken würden?

Die Aussenpolitik von US-Präsident Obama gleicht inzwischen einem «trunkenen Schiff». Da verkündet er, Amerika werde in Zukunft sein strategisches Schwergewicht vom Atlantik weg in Richtung Pazifik verlagern. Aber in den islamischen Regionen des Nahen und Mittleren Ostens taumeln die USA von Rückschlag zu Rückschlag und stehen heute hilflos vor dem unkontrollierbaren Desaster des Arabischen Frühlings. Statt sich auf die Gefahren zu konzentrieren, die seit dem Eindringen der Al Kaida in Libyen und Syrien drohen, lassen sich die Eurokraten und die Regierungen in Berlin und Paris in eine Kampagne gegen Putins Russland manövrieren. Die sonst so behutsame, fast zögerliche deutsche Kanzlerin Angela Merkel wendet sich in ultimativem Ton an einen immer noch übermächtigen russischen Partner, mit dem die deutsche Wirtschaft sehr profitable Beziehungen unterhält, und kündigt mit Hinweis auf die Ukraine scharfe Sanktionen an. Deutsche Oppositionelle mutmassen, dass Washington unverblümt eine Entfremdung zwischen Berlin und Moskau betreibt. Als Ablenkungsmanöver gegen die tiefe Verärgerung, die sich bei den Deutschen eingestellt hat, seit die Enthüllungen Edward Snowdens die schamlose Spionagetätigkeit der amerikanischen NSA enthüllte.

Die verantwortlichen Politiker in Washington denken nicht in historischen Perspektiven. Sie sehen nicht, das Russland und die USA auf Dauer existenziell durch zwei schier unüberwindliche Widersacher herausgefordert werden: durch die immer stärker werdende radikale islamische Revolution und China, das als Weltmacht an Gewicht zulegt. Stattdessen lässt sich die westliche Allianz in eine unnötige Konfrontation mit den Erben des Zarenreichs verwickeln und unterstützt jene chaotischen Kräfte in Kiew, die die Ukrainer am Ende in einen Bürgerkrieg treiben könnten. Die roten Mandarine von Peking dürften unterdessen mit Genugtuung und Spot auf die Geplänkel der Atlantiker herabblicken.

Von Peter Scholl-Latour am 17. April 2014 - 14:04 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 17:30 Uhr