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«Senkrecht» mit Natascha Knecht

Wer ist normal?

Natascha Knecht, 49, Journalistin und Alpinistin, Buchautorin und Bloggerin erklärt, wie kompliziert das Leben als Allesesserin ist.

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Wurden Sie schon mal schriftlich gefragt, ob Sie «normal» sind? Ich wurde. Von einem Tourenleiter des Schweizer Alpen-Clubs. Er hatte eine zweitägige Sektionstour ausgeschrieben, ich meldete mich per E-Mail an. Zurück kam eine gehässige Antwort: «Du hast nicht angegeben, ob du Vegetarierin bist oder normal.» Ich schrieb zurück, dass ich «normal» bin. 

Wobei ich nicht sicher war, ob ich normal bin. Denn ich gehöre zu den unkomplizierten Allesessern – und das scheint immer weniger normal zu sein. Gerade jetzt, in Zeiten der Weihnachtsessen, Familienfeiern und Apéros riches, fällt mir die grassierende Gschnäderfrässigkeit besonders auf. Im Schnitt verlangen zwei von sechs Personen eine Extrawurst.

Für einen Gastgeber gehört 
es heutzutage zur Pflicht, vorher nach Sonderwünschen zu fragen und das Menü anzupassen. Vegetarier gehören da beileibe nicht 
zu den schwierigsten Gästen. Die Fleischliebhaber können ebenfalls heikel tun. Manche essen Rind und Geflügel, aber kein Kalb, Schwein, Pferd, Kaninchen. Noch delikater ist, Fisch aufzutischen. Geschweige denn Meeresfrüchte.

Im Schnitt verlangen zwei von sechs Personen eine Extrawurst

Als anspruchsvoll erweisen sich auch die neusten Trendsetter. Die, die vergiftet darauf achten, sich ausnahmslos saisonal, regional und CO2-neutral zu ernähren. Fleisch kommt ihnen nur in den Mund, wenn der Metzger angeben kann, wie das Tier zu Lebzeiten geheissen hat. Ob es Auslauf hatte und einen glücklichen Sommer auf der Alp verbringen durfte. Das Gemüse muss zwingend vom nächstgelegenen Bio-Hof kommen und im Jute-Sack nach Hause getragen sein. Keinesfalls im Plastiksack. Keinesfalls mit dem Auto gefahren.

Vorsorgliche Intoleranz

Und nicht zu vergessen die lieben Freunde, die plötzlich an einer Nahrungsmittel-Intoleranz leiden. Letzte Weihnachten waren sie noch gesund, jetzt sind 
sie unverträglich. Laut Statistik sagt heute schon jeder Fünfte 
in der Schweiz, dass er gewisse 
Sachen nicht essen könne, ohne gleich eine geschwollene Zunge, geblähte Därme oder brennende Fusssohlen zu bekommen.

Bei vielen stimmt das wirklich. Doch einige der Betroffenen – das zeigen andere Studien – haben mal eine Gesundheitssendung gesehen und danach beschlossen, 
vorsorglich intolerant zu werden. Um vorzeitigem Haarausfall oder Reflux vorzubeugen?

Solche Gäste – ich gebe es zu – bringen mich an die Grenzen meiner bescheidenen Kochkünste. Mühsamer empfinde ich nur, selber bei Leuten mit Lebensmittel-Intoleranz eingeladen zu sein. Das erlebte ich vergangene Woche. Ich war bei Susi und Guido.

Beide meiden neuerdings Laktose und drängen nun ihre umgestellte Ernährung allen auf. Bei jedem Gang betonten sie stolz, dass keine Laktose drin ist – und welchen Ersatz sie beim Kochen verwendet haben.

Ich hätte aber gerne Laktose gehabt. Sie fehlte mir den ganzen Abend. Als ich nach Hause kam, trank ich rebellisch einen halben Liter Milch direkt aus dem Tetrapak. Ich fühlte, wie sich die Laktose wohlig in meinem Körper ausbreitete. Und begriff, dass ich als Allesesserin definitiv nicht normal bin. 

Von Natascha Knecht (alt) am 10. Dezember 2018 - 13:13 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 11:48 Uhr