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Wie die Dargebotene Hand Momos Leben rettete

«Ohni s 143 wäri tot»

Ein einziges Telefon kann Leben retten. Die junge Bernerin Momo Christen verdankt der «Dargebotenen Hand» von Franco Baumgartner ihren Weg aus der Krise.

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Dargebotene Hand Momo Christen Franco Baumgartner

Merci! Momo Christen mit 143-Chef Franco Baumgartner unter der Kirchenfeldbrücke in Bern. Das Präventionsschild weist Verzweifelten einen Ausweg.

Kurt Reichenbach

Die Erwartung ist bei vielen Menschen gross: dass in der Weihnachtszeit alles schön und gut ist. Oft geht dieser Wunsch nicht in Erfüllung. «Haben Sie und Ihr Team über Weihnachten mehr zu tun?», will Momo Christen, 47, von Franco Baumgartner, 60, wissen. Der Geschäftsführer des Sorgentelefons 143 verneint: «Über die Festtage bekommen wir nicht viel mehr Anrufe als sonst. Doch die Hilfesuchenden sind in dieser Zeit ganz besonders froh, ein offenes Ohr zu finden.» Momo Christen nickt. Auch sie ist «gottefroh, dass es das Telefon 143 gibt».

Vor 60 Jahren ist der Service public für die Seele als heisser Draht für Selbstmordkandidaten ins Leben gerufen worden – mit Unterstützung von Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler. Rund um die Uhr ist «Die Dargebotene Hand» heute noch da für ein helfendes Gespräch. Kostenlos. Nicht nur für Menschen in einer massiven Krise, sondern auch bei Alltagsproblemen. Die häufigsten Themen? Beziehung, psychische Leiden, Einsamkeit.

Rund 1,3 Millionen Menschen leben heute in einem Einpersonen-Haushalt. Geschäftsführer Franco Baumgartner: «Viele der meist jungen Singles wählen diese Wohnform bewusst und fühlen sich wohl damit. Doch es gibt auch die anderen.»

Dargebotene Hand Momo Christen Franco Baumgartner

«Wir nehmen uns Zeit»: In der Filiale des 143 in Zürich. Baumgartner ist selber oft am Sorgentelefon.

Kurt Reichenbach

«Wir sind Profis im Zuhören, keine Therapeuten»

640 speziell geschulte Freiwillige arbeiten für Telefon 143, ohne finanzielle Entschädigung. «Immer wieder genügend geeignete Leute zu finden, ist nicht einfach», sagt Baumgartner. «Doch die Seelsorger erhalten durch die Arbeit am Telefon auch viel zurück.» Die Anrufe nehmen sie in zwölf Regionalstellen entgegen, den Ratsuchenden sichern sie Anonymität und Verschwiegenheit zu.

«Es schellt alle paar Minuten», sagt Baumgartner. Auch der Geschäftsführer gehört zu den Telefonseelsorgern, er arbeitet in Zürich. Er hat Geschichte und Journalismus studiert, ist verheiratet, lebt in Kilchberg ZH. 600 Anrufe gehen täglich bei Telefon 143 ein, 220 000 pro Jahr. Ein Gespräch dauert im Schnitt 20 Minuten, oft melden sich die Hilfesuchenden mehrmals. Die meisten sind über 40 Jahre alt, zwei Drittel Frauen. «Wir sind Profis im Zuhören, keine Therapeuten.» Manchmal helfen die Seelsorger den Leuten, für ihre schwierigen Gefühle und ihr Problem erst einmal die richtigen Worte zu finden.

Die Sehnsucht nach einem anderen Leben steht im Vordergrund

Immer wieder geht es auch um Suizidgedanken. Über tausend Menschen nehmen sich in der Schweiz jedes Jahr das Leben – meist mit Schusswaffen, durch Erhängen oder Vergiften. Die Zahl jener, die einen Suizid versuchen, schätzen Fachleute auf das Zehnfache. Bei solchen Anrufen spüren die Berater der «Dargebotenen Hand» immer wieder: Nicht die Todessehnsucht steht im Vordergrund, sondern die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Baumgartner: «Diese Menschen fühlen sich oft nicht mehr dazugehörig.»

Dargebotene Hand Momo Christen Franco Baumgartner

Büchertausch: Bei ihr daheim in Bern liest Franco Baumgartner Momo Christen aus seinem neuen Buch vor: «Die Seelentröster, 60 Jahre Dargebotene Hand», Orell Füssli Verlag.

Kurt Reichenbach

Momo Christen kennt solche Situationen nur zu gut. Die Bernerin hat eine schwere Vergangenheit hinter sich. Im Alter von sieben Jahren beginnt sie zu rauchen, mit zehn trinkt sie regelmässig Alkohol. Ihre Kindheit ist geprägt von Gewalt und vielen Umzügen. Christen: «Ich war völlig entwurzelt, lebte auf der Gasse, nahm Heroin, verletzte mich bewusst.»

30 Mal ist sie als Süchtige in psychiatrische Kliniken eingewiesen worden, einmal wurde sie dort gar zwangsfixiert: Weil das Personal befürchtet, sie nähme sich das Leben, «band man mich nackt auf einen Schragen. Es war die Hölle.» Im Jahr darauf stürzt Momo Christen wieder in eine suizidale Krise. Sie spricht mit niemandem – aus Angst, wieder eingewiesen zu werden. «Trotzdem musste ich unbedingt jemandem mein Leid klagen.»

Das Gespräch mit Telefon 143 war Balsam für meine geschundene Seele

Ein Bekannter gibt ihr den Tipp: Telefon 143! «Erst hörte mir die nette Dame bestimmt zehn Minuten lang einfach nur zu», erinnert sich Momo Christen. «Dann gab sie mir zu verstehen, dass sie gut fühlt, wie schlecht es mir geht. Das war Balsam für meine geschundene Seele.» Die Telefon-Seelsorgerin hat Zeit. Und so beginnt Momo, lange und offen über ihre Suizidgedanken zu reden. «Ich hatte ein Ventil gefunden, das mir auch später noch oft Rettung war. Ohni s 143 wär i tot.»

1993 der Wendepunkt: Als eine Freundin an einer Überdosis stirbt, beginnt Momo Christen, damals 23, mit einer intensiven Therapie. Sie kriegt die Kurve. Seit zehn Jahren leitet sie im Selbsthilfezentrum Bern eine Gruppe für psychisch kranke Menschen. Heute geht es ihr gut, auch dank Medikamenten. «Nach einem Tief folgt wieder ein Hoch», sagt sie. «Sprung ins Leben» heisst das eindrückliche Buch, das Christen vor Kurzem über ihr Leben geschrieben hat.

«Grüezi. Da isch di Dargeboteni Hand.» So nimmt Franco Baumgartner am 26. Dezember Anrufe entgegen – er hat Dienst am zweiten Weihnachtstag. Viele Menschen wählen die Nummer 143, weil sie einsam sind. Oder Stress haben im Familienkreis oder mit sich selber. «Ich höre vor allem einfach zu. Interessiere mich, stelle Fragen, versuche zu verstehen und suche mit Sorgfalt nach den richtigen Worten.» Baumgartner weiss: Worte wirken oft besser als Medizin.

Thomas Kutschera
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Von Thomas Kutschera am 27. Dezember 2017 - 20:00 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 12:53 Uhr