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Delphine de Vigan (Droemer)

Wenn die Hoffnung zur Überlebensstrategie wird

Mobbing und Burnout gehören zum Alltag und inspirierten die Französin Delphine de Vigan zu einem ergreifenden Roman.

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Die Autorin, Delphine de Vigan, lebt in Paris und arbeitet in einem soziologischen Forschungsinstitut.

Mathilde war bei einer Wahrsagerin. Einer ohne Kopftuch und Kristallkugel. «Sie ist hingegangen, weil es sonst nichts mehr gab, nicht den kleinsten Lichtstrahl, nach dem man die Hand hätte ausstrecken können …» Sie streckte also die Hand hin und liess sich daraus weissagen: ein Mann, am 20. Mai. Der Besuch hat sie um 150 Euro erleichtert. Und weckt Hoffnung auf Erlösung.

Mit ihren drei schulpflichtigen Söhnen lebt die Witwe in Paris. Mathilde war dreissig, als Philipp starb. Und sie ist Jacques unendlich dankbar, dass er sie kurz darauf einstellt. Zusammen sind sie ein erfolgreiches Team. Bis zu jenem Tag, an dem Mathilde ihm öffentlich widerspricht. Diese Schmach verzeiht er ihr nicht. Mobbt sie auf perfide Art. Stumm erduldet sie Jacques’ Ausgrenzung. Schweigt, weil sie sich schämt. Als sie am 20. Mai in ihr Büro kommt, sitzt dort eine Praktikantin. Sie selbst wird in einen fensterlosen Raum neben der Männertoilette verbannt.

Am Limit ist auch der zweite Protagonist des Buches. Als mobiler Notarzt hetzt Thibault quer durch Paris von einem Quartier ins andere. Wird täglich mit dem Elend und der Einsamkeit der Grossstadt-Bewohner konfrontiert. Auch privat ist er ausgebrannt. Am Morgen des 20. Mai hat er seiner beziehungsgestörten Freundin Lila definitiv Adieu gesagt und quält sich nun während des ganzes Tages, ob es die richtige Entscheidung war.

Delphine de Vigan, 44, hat die beiden Erzählstränge gekonnt verflochten. Ist Thibault die Begegnung, die die Wahrsagerin Mathilde prophezeit hat? Kommen die beiden Menschen aus ihrer Negativspirale? Ein Plot, der durch seine beklemmende Tiefe nachhallt und für den renommierten französischen Literaturpreis Prix Goncourt nominiert war.

Deshalb berührt das Buch:

  • Der Roman widerspiegelt die Realität und die Mechanismen der heutigen Arbeitswelt.
  • Der Plot wird erträglich, weil er bis zum Schluss mit Hoffnung genährt wird.
  • Die Sprache der Autorin ist schnörkellos, dicht und nichts beschönigend.
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Von Isolde Schaffter-Wieland am 23. Oktober 2010 - 10:43 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 20:01 Uhr