Schön und zart war sie, wie ein Wesen von einem anderen Stern. Am liebsten hätte man die zerbrechliche Dame auf Händen getragen. Als die 94-jährige Johanna Henggeler letzten Dezember durch einen Gifttrank von Exit aus dem Leben schied, klopfte im Himmel ein Engel an.
Ihr Tod war geplant. Und bot Anlass zur Freude: Ein Jahr arbeiteten Isabella von Seckendorff, 65, und ihre Mutter Johanna wie besessen am letzten gemeinsamen Projekt. «Teamwork: Mutter & Tochter! 137 Fragen – 136 Antworten» heisst das Lebenswerk, das am 16. März Buchvernissage feierte. Es entstand unter tragischem Zeitdruck: «Meine Mutter wurde immer gebrechlicher und quälte sich vor Schmerzen», erinnert sich Isabella. «Es war ein hochemotionales Unterfangen. Ihr Sterben vor Augen, unterstützte sie mich nach Kräften. Am Samichlaus-Abend 2018 waren die Entwürfe fertig, am Tag darauf konnte sie endlich loslassen.»
Ein fünf Jahrzehnte langes künstlerisches Wirken fand jäh ein Ende – und wird für Isabella von Seckendorff zum Neuanfang. Eigenwillig gekleidet huscht sie nun in hohen Schuhen die Wendeltreppe hinunter. Diese verbindet alle vier Etagen des Art-Museums und ist das Rückgrat des Hauses, das mitten im Wohnquartier von Uitikon Waldegg ZH steht.
Eine Aufteilung in Schlaf-, Wohn- und Esszimmer ist nicht auszumachen. «Mit der Aufgabe unserer Privatsphäre lebten wir viele Jahre eine Form, die von namhaften Architekten als Modell der Zukunft bezeichnet wird.»
Die Kunstwerke und Rauminstallationen erschuf das Mutter-Tochter-Duo von Hand unter grösster körperlicher Anstrengung. Ihre Grundlage war ein biegsames, geruchloses Material, deren Rezeptur sie selbst austüftelten. Die zähe Masse besteht aus den Haaren ihrer Perserkatze, Marmorsand und Leim. Das so entstandene Gesamtkunstwerk ist eine Lebensleistung, die wohl schweizweit als einmalig bezeichnet werden kann.
Der Zeitdruck für das Buch war tragisch
Ihr Leben in Weiss starteten Mutter und Tochter 1991. Das Schaffen war geprägt von totaler Radikalität. Nebst Einrichtung, Kleidung und Kunst war auch die Nahrung von Äpfeln, Schwarzwurzeln bis Blumenkohl ausnahmslos in hellen Farben gehalten.
Während der Transformation gingen sie der Öffentlichkeit aus dem Weg, verzichteten auf Radio, Fernsehen und Telefon. Isabella von Seckendorff stolz: «Wir waren zu jener Zeit mausarm. Trotz 300 Franken Haushaltsbudget pro Monat blieben keine Wünsche offen. Die Reduktion aufs Wesentliche war für uns Glück und Befreiung.»
Der Tod der Mutter ist eine Zäsur für die 65-Jährige, die sie stoisch meistert. Ihr adliger Name verrät, dass sie (fast) Prinzessin geworden wäre. Doch ihre Verbindung mit dem deutschen Baron Meinhard von Seckendorff endete im Desaster. «Ich flüchtete mich in die Kunst. Und machte den Pilotenschein, um dem Grauen meiner Ehe zu entfliegen.»
Schon ihrer Mutter Johanna, die in Oberhallau SH aufwuchs, erging es nicht besser. Sie ehelichte einen Rechtsanwalt – einen Patriarchen. Der tyrannisierte Frau und Kind. Im Buch «137 Fragen – 136 Antworten» ist Erschütterndes zu lesen: «Wir hassten ihn nicht. Wir hatten Angst und erlebten diesen Menschen als Zerstörer.»
Frauen hatten es in der Schweiz bis zur Einführung des neuen Eherechts 1988 schwer. Der Ehemann bestimmte über Vermögen, Einkommen, Beruf. Selbst ein Bankkonto durften sie nicht selber eröffnen. «Auch die Erbschaft riss er sich unter den Nagel. Die Scheidung dauerte elf Jahre. Dennoch wagten wir den Absprung. Wir liessen die düstere Vergangenheit hinter uns, um fortan unseren Weg als starke Frauen gemeinsam zu gehen.»
Im ganzen Haus finden sich Symbole der Weiblichkeit wie Rosen- und Apfelsujets in allen Variationen. «Nach einer fernöstlichen Sage ist die Frau in einer weissen Rose auf die Erde geglitten. Dies ist ein unheimlich schönes Bild», schwärmt von Seckendorff und blickt aus dem Fenster. Sie wirkt gefasst.
Der Garten mit seinen weissen Mäuerchen und Kieselsteinen erinnert an eine japanische Tempelanlage. «Es ist der letzte Wille meiner Mutter, dass ihre Asche hier nach der Buchvernissage verstreut wird.»
Johanna Henggeler, eine musische Person, blickte auf ein reiches Leben zurück. Sie war Ballerina, Fotomodell, Mannequin, Künstlerin, Lehrerin und engagierte Kunstpartnerin. Ihr Anspruch an Schönheit war legendär. Hässliche, ungepflegte Menschen verabscheute sie – und liess es sie spüren. Keck auch ihr Humor. So erstaunt es nicht, dass sie sich die günstigste Urne wünschte («tot ist tot»), obschon ihr die Gemeinde einen wunderschön ausstaffierten weissen Sarg spendierte, der auch Elvis, dem King of Pop, gerecht geworden wäre.
Die Urne der lebensfrohen Dame fuhr Isabella von Seckendorff mit dem Auto spazieren. «Das hätte ihr gefallen. Erst jetzt bringe ich es übers Herz, die Zeremonie im Garten vorzubereiten, um meiner Mutter den letzten Wunsch zu erfüllen.»
Nur Lord Parish, der 16-jährige sensible Kater und einzige Mann im Haus, kann sich noch nicht mit der ungewohnten Situation anfreunden. Isabella von Seckendorff muss das Tier füttern. Und ihn herumtragen. Seit Wochen scheint er still zu trauern. Und bewegt sich nicht weg von jenem Ort, wo früher das Krankenbett seines Frauchens stand.
Kunst aus fünf Jahrzehnten: Das Art-Museum in Uitikon Waldegg ZH ist seit 2000 öffentlich zugänglich (auf Anmeldung). Die eigenwillige Transformation von Haus und Garten in eine Zen-Oase war Schwerstarbeit für Isabella von Seckendorff und Johanna Henggeler. Im 2016 erschienenen Kunstbuch «Vier Hände – ein Werk», bebildert von Starfotograf René Groebli, gibt das Mutter-Tochter-Duo Einblick in seinen versponnenen Kunst-Kosmos und in seine kreativen Prozesse.
www.art-museum.ch