Mittwoch, 5. August, 10.21 Uhr: Vor mehr als einer Stunde bin ich mit dem Auto in Byblos losgefahren, 30 Kilometer nördlich von Beirut. Hier hat unsere Familie eine Wohnung. Ich schaue bei Freunden im Hafen vorbei, ihre Wohnung wurde durch die gestrige Explosion zerstört. Nun bin ich in meinem geliebten Beirut, im Stau. Sonst wird viel gehupt, doch heute ist es ruhig, die Leute haben Geduld. Nur die Sirenen der Ambulanzen durchbrechen die gespenstische Ruhe.
Die Rauchwolke der Explosion hat sich verzogen. Der Himmel ist wieder blau, die Sonne brennt, 38 Grad. Je näher ich ins Zentrum dringe: Überall zerstörte Häuser. Überall Menschen, die Scherben zusammenkehren. Eine Frau klebt ihre zerborstenen Fenster mit Plastik ab. Nur traurige Gesichter, die Menschen sind traumatisiert. Am Radio sagt einer: «Nicht einmal im Krieg hat die Stadt so schlimm ausgesehen.»
Diese Bilder erinnern mich an meinen ersten Besuch im Libanon. Das war 1983. Ich war 20-jährig und mit meinem damaligen Verlobten Bilal hierhergekommen. Er stellte mich meinen künftigen Schwiegereltern vor. An einem Tag, es war der 18. April, gingen wir hier an der Hamra-Street einkaufen. Plötzlich knallte es! Ein Selbstmordattentäter zündete eine Bombe bei der nahen US-Botschaft, 60 Menschen kamen ums Leben. Das Unglück sprach sich herum wie ein Lauffeuer, die Einheimischen um mich herum flüchteten in Panik. Doch ich lief in Richtung der Botschaft. Ich wollte sehen, was passiert war. Journalistische Neugier.
Alle Spitäler sind hoffnungslos überfüllt, schon wegen Corona waren sie am Anschlag. Verletzte liegen in den Gängen. Die Schweizer Botschaft ist stark beschädigt, die Angestellten arbeiten provisorisch in einem nahegelegenen Büro. Botschafterin Monika Schmutz Kirgöz hat einen Schock erlitten und leichte Verletzungen. 1500 Schweizer leben im Libanon, 80 Prozent sind Doppelbürger. Die Botschaft weiss von 20 Schweizer Touristen im Land.
Gestern Abend noch sass ich mit Freunden auf der Terrasse unserer Wohnung in Byblos, bei einem Apéro. Alle paar Monate bin ich hier, mit meinem Mann und unseren Kindern. Seit über 30 Jahren besitze ich auch den libanesischen Pass. Um 18.05 Uhr ein kurzer Schreckmoment, es fühlt sich an wie ein leichtes Erdbeben, doch solche ereignen sich hier öfters. Wir denken uns nichts dabei. Fünf Minuten später beginnt es: ein Telefonanruf, eine Whatsapp-Nachricht nach der andern. Alle fragen: Bist du in Sicherheit, wie geht es dir, deiner Familie? Braucht ihr Hilfe? Bis 3 Uhr nachts bin ich am Handy. Auf allen Kanälen gibt es Aufrufe zu Blutspenden. Ich kann leider nicht wegen einer Blutgerinnungsstörung. Hunderttausende Menschen haben ihr Zuhause verloren. Hotels bieten ihnen gratis Zimmer an. Die riesige Solidaritätswelle beeindruckt mich. Es wird viel Geld gespendet. Doch die Regierung hat noch keine Hilfe angeboten – die Libanesen sind sich das gewohnt.
Mein Freund Ayman, 54, und seine Ehefrau Farah, 36, begrüssen mich in ihrer stark beschädigten Wohnung. Die Druckwelle hat alle Fenster aus den Rahmen gewuchtet. Sie erzählen: Vor den beiden Explosionen rannte ihr Hund wie wild im Kreis herum. Nach dem ersten Knall suchte die Familie Sicherheit im Gang – aus langjähriger Kriegserfahrung. Ayman, Finanzberater von Beruf: «Bei der zweiten Explosion, flogen gar die Teppiche durch die Luft.» Er sagte mir, lieber wären sie von den Israeli bombardiert worden – dann wüssten sie wenigstens, wer der Feind ist. Noch jetzt weiss niemand Genaues über die Umstände der Explosionen. Für die Bevölkerung ist klar: Verantwortlich sind die korrupten Minister! Seit 2014 wusste man, dass in jenem Lagerhaus im Hafen hochexplosive Materialien gelagert werden. Man wird wohl nie erfahren, wer Schuld ist. Die Bevölkerung ist wütend!
«Den Einheimischen wäre es lieber, sie wären von Israeli bombardiert worden»
Ayman, Finanzberater
Seit Oktober 2019 steckt der Libanon in der Krise. Diese begann mit einer Revolution, der Saura: wochenlange Proteste gegen die korrupte Regierung. Dann kam Corona und damit auch der Sturzflug der einheimischen Lira: Die meisten Leute wissen nicht mehr, wie sie ihre Kinder ernähren können. 95 Prozent haben keine Hausratsversicherung. Ich spüre eine riesige Trauer, überall. Die Menschen können langsam nicht mehr. Und jetzt noch das!
Die meisten meiner Verwandten wohnen in der Bekaa-Ebene, sie sind in Sicherheit. Gott sei Dank! Aber ich habe viele Freunde in Beirut, die ihre Wohnung verloren haben. Eine Nichte ist Lehrerin am örtlichen Lycée Français. Noch in der Nacht habe ich mit ihr telefoniert. Die ganze Schule liege in Trümmern. Ein grosses Glück, dass zur Zeit Schulferien sind. Sonst hätte es noch sehr viel mehr Verletzte und Tote gegeben. Meine Gedanken sind bei jenen, die Angehörige verloren haben.
Nach dem Besuch bei meinen Freunden fahre ich zum Gebäude, wo im 14. Stock die Schweizer Botschaft einquartiert ist. Es herrscht Einsturzgefahr. Dann begebe ich mich zum Hafen, ein Polizist lässt mich ganz nahe an den Unfallort. Noch immer bauen Mitarbeiter des libanesischen Roten Kreuzes Notzelte auf. Es ist ruhig. Viele Jugendliche bringen Besen und Eimer, helfen beim Aufräumen. Über 400 Menschen werden noch vermisst, sagt mir ein Polizist. «Es wird noch viel mehr Tote geben.» Die Verstorbenen werden innert 24 Stunden beerdigt, so ist es Brauch in arabischen Ländern.
Ich atme tief durch. Ich bin froh und dankbar. Eigentlich wollte ich gestern Nachmittag in die ABC-Shoppingmall im Stadtteil Ashrafieh. Doch weil sich Besuch anmeldete, blieb ich zu Hause. Vor einer Stunde fuhr ich an der Shopping-Mall vorbei: Sie liegt in Trümmern! Die Worte meines Freunds Ayman gehen mir durch den Kopf. «Es gibt ein Sprichwort: Wir Libanesen leben nicht, wir überleben. Von einer Katastrophe zur nächsten.»
Mitarbeit: Thomas Kutschera