Liebe Emilia
Ist es nicht seltsam, Dir zu schreiben, wo Du doch neben mir stehst, vom Skifahren beglückt und erhitzt, eine stolze Erstklässlerin, sechs Jahre alt. Genauso alt war ich, als die Schweizer Männer das Frauenstimmrecht angenommen haben. Ich habe noch meinen Jubelschrei im Ohr, als wir die Nachricht im Radio hörten, aber auch den Geschmack der Empörung auf der Zunge.
Wenn Männer überall das Sagen haben, wollte auch ich ein Mann werden. Dieser Gedanke begleitete mich lange, zu lange vielleicht, bis weit in die Pubertät. Stell Dir vor, dass ich schon früh Schriftstellerin werden wollte, aber keine Role Models fand. Es gab tolle Autorinnen, aber kaum glückliche oder solche, denen ein langes erfülltes Arbeitsleben beschieden war.
1965 in Lörrach (D) geboren, wuchs die mehrfach preisgekrönte Schriftstellerin in Aarau auf. 1994 publiziert Ruth Schweikert ihren Erstling «Erdnüsse. Totschlagen» und distanziert sich vom Etikett Frauenliteratur. In «Tage wie Hunde» erzählt sie von ihrer eigenen Brustkrebserkrankung. Mit ihrem Partner, Dokumentarfilmer Eric Bergkraut, lebt sie in Zürich, sie ist Mutter von fünf Söhnen und vierfaches Grosi und Nonna.
Zurück zu jenem Abstimmungssonntag: Mein Vater – einer Deiner Urgrossväter – hat zum Glück Ja gesagt, und sagte später auch Ja zum Gleichstellungsartikel, nicht aber 1985 zum «neuen Eherecht». Es schien ihm, dem Juristen, Ausdruck eines zunehmenden Regulierungswahns. Wir haben erbittert darüber gestritten, denn ich wollte nicht damit leben müssen, dass «der Mann das Oberhaupt der Familie» war; zum Glück durfte ich endlich selber abstimmen. Das Gesetz kam dank einer Frauenmehrheit durch. Als Dein Vater im April 1989 geboren wurde, musste ich der Frau, die über Stipendienvergabe entschied, lange erklären, warum ich mein Studium im Oktober wieder aufnehmen wollte. Mittlerweile ist das der Normalfall – doch noch immer eine grosse Herausforderung, diese Jonglage zwischen Elternsein, Beruf, Karriere und Kindeswohl.
Gut möglich, dass eine deiner Ahninnen als Schwarze Sklavin nach Südamerika verschleppt wurde, eine andere mit spanischen Eroberern in Kolumbien landete. Ebenso gut kann eine Deiner deutschen Vorfahrinnen vom Sklavenhandel profitiert haben. Eines Tages wirst Du Dich selbst mit Deinem Erbe auseinandersetzen und dem, was es für die Schweiz von morgen bedeutet. Ich wünsche Dir Mut, Kraft und Verstand dafür.
Noch verstehst Du nicht alles, was ich Dir erzähle; ich schreibe Dir, weil mein Brief mich selbst wohl überdauert, weil er dereinst vielleicht zum Zeitzeugnis wird, zum winzigen Puzzleteil der Schweizer Alltagsgeschichte, zu der auch Du schon gehörst.
Deine Grosi Ruth