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«Ich war gerne Staatsdienerin»

Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch tritt ab

Sie war die erste Staatssekretärin der Schweiz, heute hat sie fünf Kolleginnen. Ende Juli tritt Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch nach elf Jahren zurück. Ministerien und Verhandlungstische tauscht sie jetzt gegen Massenlager und Viertausender.

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Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch (*1961), avocate de formation et titulaire d'un MBA, a été nommée secrétaire d'Etat et directrice du Secrétariat d'Etat à l'économie SECO, et est entrée en fonctions le 1er avril 2011. ©Nicolas Righetti/Lundi13.ch

«Verhandeln ist zur Hälfte Inhalt, zur Hälfte Beziehung und Psychologie», so Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch.

Nicolas Righetti

Wenn Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch, 60, zu Sitzungen oder Anlässen fährt, nimmt sie das Tram. Die Dienstlimousine, die sie als Staatssekretärin zugute hat, hat sie abgelehnt. «Ich brauchte sie nie, ich mache hier in Bern und in der Schweiz alles mit dem ÖV.» Sie residiert auch nicht in einem Prunkbau, sondern in der ehemaligen Ovomaltine-Fabrik Wander im Berner Weissenbühlquartier. Rund 800 Mitarbeitende umfasst das Staatssekretariat für Arbeit, Wirtschaftspolitik, Aussenwirtschaft und Standortförderung (Seco). Ineichen-Fleisch ist Handelsdiplomatin und wurde 2011 als erste Frau an die Spitze eines Staatssekretariats gewählt.

Die Bundesverwaltung war bereits zu Beginn ihrer Berufskarriere ihr Wunscharbeitgeber. «Es war klar vom Moment an, als ich zum ersten Mal bei Verhandlungen dabei war. Es ging um ein Investitionsschutzabkommen. Ich hörte dem Chefunterhändler zu und schrieb das Protokoll – und war fasziniert», blickt sie zurück. Heute zählt sie zu den versiertesten Verhandlerinnen des Landes und verantwortet knapp die Hälfte der 33 Freihandelsabkommen der Schweiz. «Es tönt vielleicht sehr patriotisch, aber ich setze mich gern für die Schweiz ein.» Ist sie also das, was man eine Staatsdienerin nennt? «Absolut. Das bin ich.»

Bis vor Kurzem waren nur Exportfirmen an Aussenwirtschaft und damit am Steckenpferd von Ineichen-Fleisch interessiert. Doch das hat sich in den letzten zwei Jahren seit den Volksabstimmungen über das Abkommen mit Indonesien und die Konzernverantwortungsinitiative geändert. Plötzlich wurde darüber diskutiert, ob die Schweiz mitverantwortlich ist, wenn für Palmöl Regenwald abgeholzt wird und Arbeiterinnen und Arbeiter ausgenützt werden. Versteht sie dieses Unbehagen? «Bis vor einiger Zeit wurden ökologische und soziale Bedenken vielleicht zu wenig einbezogen. Zu lange sprach man nur vom Wachstum», gibt die Juristin zu. «Die Wirtschaftsvertreter müssen mehr auf die Bedenken eingehen und ihre Arbeit erklären.

Auch Grosskonzerne müssen mehr darüber reden, was sie tun, wie sie es tun und wie sie sich einsetzen.» Sie selber sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, sich zu stark für Aussenwirtschaft und zu wenig für den inländischen Arbeitsmarkt einzusetzen und ihre Amtsvorsteher vorzuschieben. Die Chefin kontert: «Im Seco arbeiten hoch qualifizierte Menschen, die ihre Themen beherrschen, und wir haben ein sehr kollegiales Verhältnis. Ich gehöre nicht zu denen, die immer vorne stehen müssen.»

Die Nachfolgerin

Helene Budliger Artieda, designierter Staatssekretaerin des Staatssekretariats fuer Wirtschaft (SECO) spricht an einer Medienkonferenz ueber die Ernennung der neuen Staatssekretaerin des Staatssekretariats fuer Wirtschaft (SECO), am Mittwoch, 4. Mai 2022, im Medienzentrum Bundeshaus in Bern. (KEYSTONE/Anthony Anex)

Ab 1. August wird das Seco von Helene Budliger Artieda, 57, geleitet. Die ehemalige Ressourcen-Chefin des Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) hat einen Master in Betriebswirtschaft und ihre Karriere als Sekretärin im EDA gestartet. Auf dem Aussenposten Lima lernte sie ihren Ehemann Alex Artieda kennen. Vor ihrer Berufung als Staats-sekretärin des Seco leitete sie die Schweizer Botschaft in Bangkok.

keystone-sda.ch

Der Zusammenhalt innerhalb ihres Teams habe auch geholfen, die Wirtschaftshilfen während der Coronapandemie auf die Beine zu stellen. «Darauf bin ich sehr stolz! Es war ein beruhigendes Gefühl, dass wir wirklich helfen konnten. In anderen Ländern gab es grosse Ankündigungen, wir lieferten, ohne grosses Brimborium. Das war sehr schweizerisch.» Innert 48 Stunden wurde eine Hotline mit 200 Angestellten eingerichtet, auch die Bernerin selber hob ihre Umleitung auf und nahm Anrufe entgegen. «Heute stehen wir gut da dank ausgewogenen Gesundheitsmassnahmen, schneller Wirtschaftshilfe und einer diversifizierten Wirtschaft. Die Zeit war herausfordernd und ausnehmend spannend. Es ist schwierig, nach so etwas eine ebenso fordernde Aufgabe zu finden.» Den anderen vertrauen, einen Schritt vorausdenken und auch auf die Interessen der Gegenseite Rücksicht nehmen – das ist das Rezept für erfolgreiche Verhandlungen, aber auch für Bergtouren.

Und davon versteht Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch eine Menge. Von den 48 Viertausendern in der Schweiz hat sie nur drei noch nicht bestiegen: das Schreckhorn, das Weisshorn und das Lauteraarhorn. «Das will ich nun nachholen», freut sie sich. Auch auf mehrwöchige Expeditionen und Reisen mit ihrem Mann Mark, einem Berner Anwalt, «bei denen ich mehr sehe als Ministerien und Flughäfen». Verständigungsprobleme wird Ineichen-Fleisch dabei nicht haben, spricht sie doch neben Deutsch auch Französisch, Italienisch, Englisch, Spanisch, Russisch und Chinesisch. Die Sprache des Reichs der Mitte lernte sie in jungen Jahren bei Studienaufenthalten, und dabei hat sie die Bevölkerung als sehr freundlich, zuvorkommend und fröhlich erlebt. Das Freihandelsabkommen mit China war eines ihrer Meisterstücke, ist doch die Schweiz eines der ganz wenigen Länder, die das geschafft haben. «Ich glaubte damals, dass mit einer wirtschaftlichen Öffnung unsere Werte auch in China Fuss fassen. Das war vielleicht naiv.»

Das Prinzip Wandel durch Handel und der Glaube an den freien Handel sind nicht nur durch den Krieg in der Ukraine arg durchgeschüttelt worden. «Diese Entwicklung macht mir Sorgen. Die Pandemie hat uns gezeigt, wie schädlich Abschottung ist. Wir als kleines Land bekommen Schwierigkeiten, wenn wir nicht importieren können, wir brauchen offene Märkte, denn wir können nicht alles selber produzieren.»

«Ich gebe zu, ich könnte noch lange hier bleiben.»

Die Zeit bis zum Abschied Ende Juli hat sie vollgepackt mit Arbeit. Nicht nur will sie ihrer Nachfolgerin Helene Budliger Artieda, bis anhin Botschafterin in Bangkok, tipptoppe Dossiers übergeben, sondern täglich ploppen auch neue und neuartige Probleme auf, die das Seco lösen muss: die Folgen von Corona, die Sanktionen gegen Russland, die Ausfuhr von Kriegsmaterial, die ungeklärten Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU und nun noch die Inflation und die Folgen für den Arbeitsmarkt.

All das erfordert Entscheidungen, Arbeitspapiere und Einschätzungen vom Seco. «Ich gebe zu, ich könnte noch lange hier bleiben, es ist die beste Stelle, die es gibt. Aber man muss auch gehen können. Und der Zeitpunkt passt sehr gut.»

Text: Monique Ryser am 26. Juni 2022 - 12:27 Uhr