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«Ich habe ein Leben in Fülle»

Priorin Irene über ihr Glück im Dienste des Herrn

Sie ist die jüngste der 18 Benediktinerinnen im Aargauer Kloster Fahr. Die weltoffene Priorin Irene Gassmann, 57, über monastisches Leben, Ostern und ihr Engagement gegen Missstände in der katholischen Kirche.

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Kloster Fahr, Priorin Irene Gassmann ©Olivia Pulver - Februar 2022

Die Priorin in ihrem Büro, die Tür führt in ihre Zelle. Irene Gassmann ist die Initiatorin des «Gebets am Donnerstag», bei dem wöchentlich für die Gleichstellung von Frauen in der Kirche gebetet wird.

Olivia Pulver
Thomas Kutschera
Thomas Kutschera

Zum täglichen Gang von Priorin Irene Gassmann durch ihr Kloster gehört der Besuch in der Paramentenwerkstatt. Hier oben im Dachstock sitzt Schwester Bernadette Meier an einem grossen Webstuhl, mit flinken Händen und Füssen fertigt sie Messgewänder und andere farbenfrohe Textilien für den kirchlichen Dienst. An der Wand ein Jesusbild. «Wie gehts, Schwester Bernadette?», fragt Irene Gassmann, 57. «Prima» – die 86-Jährige legt kurz eine Hand auf den Arm der Priorin. «Schön, dass du so gut zu uns schaust!»

Jan Scherrer - Snowboard Halfpipe Bronzegewinner Olympia 2022 Peking - Zürich, 15. Februar 2022 - Copyright Olivia Pulver

Die Priorin schaut bei Mitschwester Bernadette, 86, vorbei. Diese arbeitet an einem Webstuhl in der Paramenten-Werkstatt.

Olivia Pulver

18 Benediktinerinnen leben im Kloster Fahr bei Unterengstringen ZH, dieses gehört zum Kloster Einsiedeln SZ. Nur zwei der katholischen Ordensschwestern sind noch nicht im AHV-Alter, die jüngste von ihnen ist die Priorin – die anderen sind 74-jährig und älter. Ihr Alltag ist klar strukturiert gemäss der Regel des heiligen Benedikt: 5.20 Uhr aufstehen, 5.50 Uhr das erste Gebet, die Vigil. Sechs Gebete und zwei geistliche Lesungen wechseln sich ab mit Arbeiten und Essen. Arbeit gibts in der Küche, der Wäscherei, im Garten, in der Paramentenwerkstatt. Um 19.45 Uhr lädt das Glöcklein zum letzten Mal in die Klosterkirche – zum Nachtgebet. Ora et labora, bete und arbeite – das ist die Lebensform der Benediktinerinnen.

Priorin Irene Gassmann, Kloster Fahr - Februar 2022 - Copyright Olivia Pulver

Irene Gassmann beim Gebet im Innenhof ihres Klosters Fahr vor den Toren Zürichs. «Das ist mein Lieblings-Kraftort.»

Olivia Pulver

«Ich habe alles, was ich brauche», sagt Priorin Irene. «Ein Leben in Fülle!» Federnden Schrittes ist die gebürtige Luzernerin durch den stillen Kreuzgang des Konventsgebäudes in ihr Büro unterwegs. Vorbei an den Gästezimmern und dem Refektorium, dem Speisesaal. Der Blick schweift in den Innenhof, auf der anderen Seite liegt der Friedhof – dort sind die verstorbenen Schwestern zur letzten Ruhe gebettet.

«Es ist ein Privileg, Zeit zu haben für das Gebet. Runterzufahren, da zu sein für den Herrgott, für die Welt, für mich. Gerade in der jetzigen Zeit ist es wertvoll, immer wieder in die innere Mitte zurückzukehren und so Kraft und Zuversicht zu schöpfen. Der Rhythmus in unserem Alltag ist ein grosses Geschenk.»

Priorin Irene Gassmann, Kloster Fahr - Februar 2022 - Copyright Olivia Pulver

Priorin Irene (r.) beim Mittagsgebet in der barocken Klosterkirche. «Beten entspannt und gibt viel Kraft.»

Olivia Pulver

Die Priorin drückt die Falle einer breiten Eichentür und betritt die Clausura. «Hier bin ich zu Hause.» Dieser Trakt ist normalerweise den Ordensschwestern vorbehalten, hier befinden sich ihre Zellen: 20 Quadratmeter gross, Bett, Tisch, Kommode, Büchergestell, Gebetsecke, Lavabo. «Meine Zelle ist gleich gross», sagt Priorin Irene und setzt sich auf den Sitzball vor ihrem Pult. Als Chefin des Klosters mit seinen 14 weltlichen Angestellten verfügt sie über ein Büro.

Priorin Irene Gassmann, Kloster Fahr - Februar 2022 - Copyright Olivia Pulver

Die Chefin in ihrem Büro. Auch auswärts ist sie oft an Sitzungen. «Meine Facebook-Seite bewirtschafte ich nicht allzu fleissig.» 

Olivia Pulver

Seit 2003 leitet die ausgebildete Bäuerin und Hauswirtschaftslehrerin das Fahr. Neben der administrativen Leitung ist ihre Hauptaufgabe, für ihre Mitschwestern da zu sein. Den einzelnen zu helfen, sich weiterzuentwickeln, auch zum Wohl der Gemeinschaft. Betagte Nonnen begleitet sie zum Hausarzt. Zwei Wochen Auswärtsferien im Jahr stehen jeder Klosterbewohnerin zu.

Priorin Irene verbringt sie meist mit zwei Baldegger Schwestern im Ferienhaus von Bekannten in Aminona VS: wandern, Kapellen besuchen, «einfach sein, diskutieren, es lustig haben». Anfang Jahr gibt es Ferien für alle Nonnen «daheim im Kloster»: ausschlafen, Ausflüge in den Zoo oder Museen. Im Frühjahr und Herbst stehen je vier Lässe-Tage an. Während diesen wurden die Ordensleute früher – ein alter Brauch des Klosters Einsiedeln – erst zur Ader gelassen, dann gönnte man sich was: Es musste nicht gearbeitet werden, es gab feines Essen. «Heute belassen wir es beim zweiten Teil.»

 

Priorin Irene Gassmann, Kloster Fahr - Februar 2022 - Copyright Olivia Pulver

Alles geht ruhig seinen Gang. Nach dem Mittagsgebet schreiten die Ordensschwestern zum Zmittag im Refektorium.

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Eine spezielle Bedeutung im monastischen Leben haben auch die österlichen Tage. Die Priorin: «Wenn Steine, die uns das Leben schwer machen, wegfallen, wenn es uns wieder leichter oder auch heller wird ums Herz – dann erfahren wir Ostern. Sie wird uns geschenkt!» Die nachmittägliche Liturgie am Karfreitag ist für die Priorin der berührendste Gottesdienst im Kirchenjahr: In der Klosterkirche liest eine Nonne eine Meditation der verstorbenen Mitschwester Silja Walter, anschliessend legen alle rote Rosen zum Kreuz.

«Der Karsamstag gibt uns Stille und Zeit, um der Ohnmacht angesichts des Krieges und all der Fragen Raum zu lassen.» Am Ostermorgen versammelt sich die Gemeinschaft um fünf Uhr im Klostergarten. «Wir übergeben dem Osterfeuer die Gebetsanliegen, die uns im vergangenen Jahr anvertraut wurden. Heuer sind auch die unausgesprochenen Bitten und ungehörten Schreie der Kriegsopfer dabei.» Im Vertrauen, dass das Osterlicht stärker ist als jede Dunkelheit, «gehen wir mit der brennenden Osterkerze in die dunkle Kirche». Dort stimmen die Schwestern bei der Auferstehungsfeier erstmals nach der 40-tägigen Fastenzeit das Halleluja an – den Aufruf zum Lob Gottes. «Nach dem Morgenlob wird es auch im Fahr Tag, die Sonne geht auf – das Zeichen der Hoffnung. Es ist Ostern, trotz allem!» Zum Zmorge reicht die Tischdienerin Hefetauben, Butter und Honig.

Priorin Irene Gassmann, Kloster Fahr - Februar 2022 - Copyright Olivia Pulver

Schwester Veronika Odermatt, 58, leitet die hauseigene Apotheke. Ihren Kräutertee und Kräutersirup gibts im Klosterladen.

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«Unser Kloster in zehn Jahren? Wir wissen nicht, was kommt. Das macht uns stark!»

Die Tage der Priorin sind lang. Nach dem Znacht sitzt sie mit ihren Mitschwestern in der Stube – zur Rekreation, der gemeinsamen Erholung. Sie diskutieren, jassen, manchmal schauen sie «Schweiz aktuell». Sie habe sich lange gegen ein Fernsehgerät gesträubt, erzählt die Priorin. «Doch es war ein Herzenswunsch von vielen in unserer Gemeinschaft. Nun sind wir froh darum, es öffnet uns ein Fenster zur Welt.» In letzter Zeit wird das Gerät vor der «Tagesschau» ausgeschaltet. «Ich schütze mich und meine Mitschwestern vor den Bildern des Krieges.» Um 21.30 Uhr geht die Priorin in ihre Zelle. Dort liest sie die «Limmattaler Zeitung», von A bis Z, ausser den Sportteil. Nach einem letzten Gebet löscht sie die Lampe auf ihrem Nachttisch. Hier liegt das Buch «Frauen ins Amt! Männer der Kirche solidarisieren sich».

Regelmässig beherbergt das Kloster weibliche Gäste, die mit den Nonnen durch den Tag gehen. Die Nachfrage ist rege. «Die Menschen suchen das: in die Stille kommen, sich rausnehmen aus dem Treiben dieser Welt. Sich selber sein, doch in Gesellschaft.»Ein wichtiger Termin der Gemeinschaft ist das öffentliche «Gebet am Donnerstag» in der Kirche. Vor drei Jahren hat es die Priorin ins Leben gerufen. «Es braucht Veränderungen in unserer Kirche!», fordert die Feministin. Für Gleichberechtigung von Frau und Mann, gegen sexuellen und Machtmissbrauch in der kirchlichen Gemeinschaft: Das sind die Themen bei diesem gemeinsamen Gebet. An über 100 Orten gibts mittlerweile solche Gebetsveranstaltungen.

 

«Die Ruhe und der klare Rhythmus unseres Alltags geben uns eine wunderbare Balance.»

Priorin Irene Gassmann, Kloster Fahr - Februar 2022 - Copyright Olivia Pulver

Das Kloster Fahr gehört zu Würenlos AG, als Exklave ist es umgeben von der Gemeinde Unterengstringen ZH.

 

Olivia Pulver

«Viele Leute, die uns nicht kennen, sind überrascht.» Immer wieder hört die Priorin: «Ich hätte nicht gedacht, dass ihr so weltoffen seid, so humorvoll, so zufrieden.» Ein anderes Echo, das ihr häufig zu Ohren kommt: «Bei euch ist es so ruhig und friedlich.» Die Priorin schmunzelt. «Wenn die wüssten, dass es auch bei uns hektische und angespannte Zeiten gibt!» Im Advent zum Beispiel. Viele Mitschwestern schreiben dann «extrem viel». Irene Gassmann hat entschieden, keine Weihnachtspost mehr zu schreiben. «Dieser Stress verdarb mir die Festtagsstimmung.

»Der Blick der Priorin schweift über die nahe Limmat, an ihr geht sie oft spazieren. «Wir haben es gut in unserer Gemeinschaft.» Wegen Corona konnten die Nonnen monatelang keine Gäste empfangen. «Diese Impulse und der Austausch fehlten uns.» Also schaute die Priorin, «dass wir bei Stimmung bleiben»: Im Propsteigarten machten die Schwestern Spiele und Gymnastik, danach gabs Kafi und Kuchen. Die Gemeinschaft experimentierte mit neuen Gottesdienstformen. «Meine betagten Mitschwestern sind geistig gewachsen und noch offener geworden.»

Die Kirchenglocke läutet, die Priorin macht sich parat zum Abendlob. «Diese Zeit hat uns noch mehr zusammengeschweisst. Sie hat uns Halt und Kraft gegeben. Die brauchen wir in diesen schwierigen Zeiten.» 

Jan Scherrer - Snowboard Halfpipe Bronzegewinner Olympia 2022 Peking - Zürich, 15. Februar 2022 - Copyright Olivia Pulver

Priorin Irene: «Im Fahr leben Frauen, die das Leben lieben.» Werktags um 17 Uhr findet in der Klosterkirche ein öffentliches Gebet für den Frieden statt. 

Olivia Pulver
Thomas Kutschera
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Thomas Kutschera am 15. April 2022 - 16:22 Uhr