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  4. Marlen Reusser holt Olympia-Silber in Tokio: Radprofi und Ärztin – im Express durchs Leben

Einst wollte sie mit dem Velo bloss das Zugbillett sparen

Olympia-Zweite Marlen Reusser hat die Liebe spät gefunden

Sie wollte Geigerin werden, wurde Ärztin, machte aktiv ­Politik. Nun ist die Emmentalerin Vize-Olympiasiegerin im Zeitfahren. Marlen Reusser ist eine Frau mit vielen Gesichtern, noch mehr Energie – und einer späten Berufung zum Radsport, wie sich bei unserem Besuch im Herbst 2020 zeigte.

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Marlen Reusser

Da ist die Medaille: Marlen Reusser nach ihrem grössten Triumph.

Getty Images

Als Marlen Reusser an ihren ersten Schweizer Meisterschaften ihre Konkurrentinnen überholt, ruft sie ihnen «Hopp, hopp, hopp» zu. Sie meint das nicht spöttisch, vielmehr denkt sie: «Ich kann doch da nicht vorbeifahren und nichts sagen!» Die Szene ist erst knapp vier Jahre her, und heute lacht sie darüber. Doch sie ist auch typisch für Reusser, denn obwohl diese mittlerweile Medaillen an internationalen Meisterschaften holt, ist sie im Radsport eine Quereinsteigerin. Wie man sich in einem Rennen verhält: Neuland.

Eine Karriereplanung gibt es nicht bei der 29-jährigen Bernerin, die in Hindelbank im Emmental BE aufgewachsen ist. So viele Interessen, so viel Tatendrang, so viele Optionen – und Reusser nimmt alle Erfahrungen, die sich ihr bieten, enthusiastisch und mit offenen Armen an. Nun eben: Veloprofi. Die ausgebildete Ärztin hat dafür im Februar 2019 ihre Assistenzarztzeit in der Chirurgie abgebrochen und ist auf den Bauernhof der Eltern zurückgezogen, weil im Radsport der Frauen nicht viel Geld zu verdienen ist.

Hier sitzt sie am Wochenende oft mit ihren Geschwistern Monika, 32, und Simon, 26, und deren Partnern zusammen und geniesst Natur und Familie. Das war nicht immer so. Die Schwestern etwa finden sich erst im Erwachsenenalter richtig, gehen sich davor eher aus dem Weg. «Die beiden mussten zurückstecken, ich zog die Aufmerksamkeit auf mich», sagt Marlen heute. «Retrospektiv tuts mir ein wenig leid. Wirklich!» Ihre Geschwister sind eher ruhig, Marlen als Kind im Dorf «für ihre grosse Klappe bekannt», wie Bruder Simon sagt. Marlen braucht immer eine Herausforderung, tobt sich aus, schätzt sich auch heute noch als anstrengend ein.

Marlen Reusser mit Familie, 2020

Marlen Reusser zuhause in Hindelbank BE zwischen Bruder Simon und Schwester Monika (mit Neffe); links deren Partner Viktoria und Mehmet.

Remo Naegeli

«Marlen war als Kind im Dorf für ihre grosse Klappe bekannt»

Simon Reusser, Bruder

Es gibt in der Familie eine Theorie, weshalb sie so anders ist als der Rest der Familie – voller Ehrgeiz und Energie: «Unsere Grossmutter hat auch eine Schraube locker. Sie steht von sechs Uhr morgens bis neun Uhr abends im Feld und jätet, ohne auch nur dran zu denken, etwas zu trinken.» Auch Marlens Geschwister mögen Sport – «aber sie ist da eine Ausnahmeerscheinung – wir sind die Normalsterblichen». 

Eine späte Karrierezündung

Mässigung oder Durchschnitt ist nicht Reussers Welt. Mit 14 wird sie in ein Programm aufgenommen, bei dem sich talentierte Musikerinnen und Musiker neben der Schule intensiv ihrem Instrument widmen können. Sie spielt gern Violine, doch die strenge polnische Schule ihrer Lehrerin liegt ihr nicht. «Viele junge Frauen haben extreme Ansprüche an sich selbst», reflektiert sie heute. «Ich dachte, ich müsse unbedingt Vollgas geben und erfolgreich sein.» Es dauert, bis sie merkt, dass sie gar nicht mehr mit Freude dabei ist, und aufhört. Könnte ihr dasselbe auch mit dem Sport passieren? «Ich glaube, ich habe mittlerweile eine gute Haltung entwickelt.» Sie möchte erfolgreich sein, aber falls nicht, sei es auch okay. «Ich habe, was ich habe, und mache damit, was ich kann.» Der Radsport gefällt ihr aber jeden Tag mehr, und die Siegerin der European Games, WM-Zweite im Zeitfahren und nun Vize-Olympiasiegerin ist mit Feuereifer dabei zu sehen, wie weit sie es noch bringen kann. 

Ursprünglich liebte Reusser den Laufsport und Triathlon. Doch wegen einer Bewegungseinschränkung in ihren Fussgelenken war dies immer mit Schmerzen verbunden. Der Weg zum Velo war danach eher Zufall. Aus einem Sprachaufenthalt mit 17 bei einer sportbegeisterten Familie im Welschland kehrt sie mit ihrem ersten Rennvelo zurück. Lange benutzt sie es nur sporadisch, wenn auch mit einer verrückten Note: So fährt sie ab und zu aus dem Emmental zu ihrem damaligen Freund nach St. Gallen, um das Zugbillett zu sparen. Oder lässt in Wanderschuhen und mit Rucksack Rennradfahrer des lokalen Radvereins RV Ersigen stehen. Die Männer sind zwar zuerst frustriert, überreden Reusser dann aber, eine Rennlizenz zu lösen.

Marlen Reusser, 2020

Ein Bad im eiskalten Wasser des Brunnens im Hof ihrer Eltern dient Reusser als Regenerationsmassnahme nach ihren Velotrainings.

Remo Naegeli

Nun ist sie innert kürzester Zeit mitten in die Weltelite geprescht. Doch so unerwartet und aufregend das neue Leben als Sportlerin auch ist – mit allem kann sie sich nicht anfreunden. Die vielen Reisen im Flugzeug etwa lassen sich schlecht mit ihrem ökologischen Bewusstsein vereinbaren. Denn politisch aktiv war sie immer. Angefangen hat das bereits als Kind: Die damalige Saumast auf dem Hof der Eltern erträgt Marlen nur schlecht, diese wird schnell zum familieninternen Streitpunkt. Sie selbst wird früh Vegetarierin. Als sie sich als Jugendliche bei den Jungen Grünen engagiert, ist sie konsterniert, dass sie in Bern nicht mehr bewegen kann – und probiert es heute im Kleinen. «Ich versuche im Rahmen meiner Rolle in dieser Gesellschaft zu tun, was ich kann. Sei es nur anzuregen, den Zug anstelle des Fliegers zu nehmen, für ökologischere Einkäufe zu plädieren oder zu helfen, die immensen Wäscheberge im Radsport zu reduzieren.» 

«Viele junge Frauen haben ex­tre­me Ansprüche an sich selbst. Ich dachte, ich müsse unbedingt Vollgas geben und erfolgreich sein»

Marlen Reusser

Deswegen aufzuhören, findet sie sinnlos. «Nur weil ich nicht Velo fahre, ändert sich der Sport ja nicht. Eher kann ich so zu einer positiven Veränderung beitragen.» Gut möglich, dass das auch nach der Karriere ihr Ziel ist: im Sport etwas verändern. Vielleicht gerade im Frauensport. Denn da ist noch Luft nach oben: Reussers eigener rasanter Aufstieg zeigt mitunter auf, welche Strukturen im Schweizer Frauenradsport noch fehlen. Die Herausforderungen und Ideen gehen Marlen Reusser ganz bestimmt nicht aus.

Von Eva Breitenstein am 4. Oktober 2020 - 17:04 Uhr, aktualisiert 28. Juli 2021 - 10:00 Uhr