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  4. Sepp Rüegg: "Den Leuten gefällt unser höllischer Lärm"

SIE GEHEN FAST VERGESSEN

Zu Besuch bei wahren Treichlern

Die Freiheitstrychler sind in aller Leute Munde. Die Thurgauer Silvester-Treichler Märstetten wollen nicht in denselben Topf geworfen werden. Ihr Vorstandsmitglied Sepp Rüegg: «Wir pflegen ein wichtiges und altes Brauchtum.»

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Treichler

 Die Silvester-Treichler Märstetten in Ottoberg TG beim Marsch durch den Ortsteil Dorf. Vorne rechts Vorstandsmitglied Sepp Rüegg.

Kurt Reichenbach
Thomas Kutschera
Thomas Kutschera

Im Gleichtakt hallt das archaische Geläut der Treicheln durch den Dorfkern des thurgauischen Weinbauorts Ottoberg. Bewohner schauen am Strassenrand zu, eine Frau klatscht und ruft den Vorbeiziehenden zu: «Ein wunderschöner Lärm! Das sind noch wahre Trychler!» 16 Mitglieder der Silvester-Treichler Märstetten sind unterwegs, sie proben für ihren nächsten Auf-tritt: An Silvester werden sie in ihrem Dorf traditionsgemäss das alte Jahr ausläuten. Nun paradieren sie bedächtigen Schritts die Dorfstrasse rauf, man versteht kaum das eigene Wort.

Nach einer Viertelstunde gehen die Trychler in die Knie, um ihre Ausrüstung abzustellen – das leichteste Paar Treicheln wiegt 26, das schwerste 34 Kilo. Auch Sepp Rüegg kann nun den Rücken strecken. Der 52-Jährige ist zufrieden mit seiner Gruppe, er freut sich auf Silvester. «Endlich haben wir dann wieder einmal einen Auftritt!»

Silvester Treichler Märstetten

Vor der Probe in Ottoberg fasst jeder der Gruppe seine beiden Treicheln. Bis 34 Kilo drücken beim Trycheln auf Nacken und Schultern.

Kurt Reichenbach

1982 wars, als ein paar Märstetter die Silvester-Treichler gründeten. Ziel: den Nachtbubenstreichen an Silvester ein Ende zu setzen! 26 Aktivmitglieder zwischen 18 und 71 Jahren hat der Verein heute, unter ihnen zwei Frauen. Die meisten kommen aus der Landwirtschaft oder haben einen handwerklichen Beruf. Einer der traditionellen Treichler ist der einheimische Spitzenschwinger Samuel Giger, 23. Nach seinem Sieg am diesjährigen Kilchberger Schwinget wurde er in Weinfelden TG auch von seinen Treicheln schwingenden Kollegen empfangen.

«Mit dem Treicheln pflegen wir eine bodenständige Kultur und ein altes Brauchtum», sagt Rüegg, Inhaber eines Geflügelzuchtbetriebs und im Vorstand der Silvester-Treichler. Seit Jahrhunderten werden diese blechernen Instrumente landauf, landab gebraucht, um Unheil bringende Kräfte und den Winter zu vertreiben. 4000 Treichlerinnen und Treichler in der Schweiz pflegen diese Bräuche, sie gehören 300 Treichlervereinen oder -gruppen an, einen nationalen Verband gibt es nicht. 

 

«Die Freiheitstrychler verfolgen ein politisches Ziel. Das hat nichts mit unserem Brauchtum zu tun!» SILVESTER-TREICHLER SEPP RÜEGG

Zehnmal kleiner ist die Zahl der Freiheitstrychler, die gegen die offizielle Coronapolitik protestieren. «Unter diesen hat es wenige Vereinstrychler», betont Rüegg. «Sie verfolgen ein politisches Ziel. Das ist legitim, hat aber nichts mit unserem Brauchtum zu tun!» Vereinskollege Domenik Meier, 40, ergänzt: «Die Freiheitstrychler bedienen sich ein Stück weit unseres Brauchtums. Wobei man Glocken, Schellen und Treicheln schon früher zu Kundgebungen verwendete.» Rüegg weiss von traditionellen Brauchtumsvereinen, die von Freiheitstrychlern angefragt wurden, ob sie ihre Treicheln für eine Demo ausleihen dürfen.

20 Auftritte im Jahr hatten die Märstetter Treichler vor der Pandemie, etwa beim Schwägalp-Schwinget, an Firmenanlässen, 1.-August-Feiern, Hochzeiten. Zum Jubiläum der Musikgesellschaft im deutschen Mehrstetten trugen die Thurgauer das Schweizer Brauchtum auch schon über die Landesgrenzen. Wo immer sie auftreten: «Die Leute haben Freude, wir bekommen stets viele Komplimente.» Der höllische Klang und der gleichmässige Rhythmus fesseln nicht nur das Publikum. Meier: «Für mich ist das Treichlen Erholung. Mein liebstes Hobby.» 

Silvester Treichler Märstetten

Sepp Rüegg bringt eine seiner zwei Treicheln auf Hochglanz. «Sie sind mir ans Herz gewachsen.» 

Kurt Reichenbach

Vor ihren Anlässen proben die Treichler vor Rüeggs Geflügelzuchthalle. Dieser schmunzelt. «Die Treicheln kesseln ganz schön laut. Doch die Hühner stört das nicht. Von uns wurde noch keiner taub.» 2017 organisierten sie ein Fest: das 13. Eidgenössische Scheller- und Trychlertreffen. 3000 Aktive kamen, 10 000 Besucher, auch Bundesrat Ueli Maurer. «Bei unserem Fest gab es für ihn kein Chutteli», sagt er in Anspielung auf das T-Shirt, das der Magistrat von den Freiheitstrychlern bekam. Nach Proben und Auftritten höckeln die Silvester-Treichler auf ein Bier zusammen. «Kameradschaft ist Trumpf.»

Seine beiden Treicheln bewahrt Rüegg in seiner Garage auf, Kollege Domenik in der Stube. Rund 5000 Franken hat der Geflügelzüchter für seine Ausrüstung bezahlt. Dazu gehören die zwei handgeschmiedeten Treicheln, Riemen mit Messingschnallen, ein gepolstertes Joch aus Eschenholz und zwei Überwürfe mit gestickten Blumenmotive. Die Treicheln und die seiner Vereinskollegen sind alle in Innerschweizer Handwerksbetrieben in Familienhand gefertigt worden.

"Bei unserem Fest gab es für Bundesrat Ueli Maurer kein Chutteli» SEPP RÜEGG, OK-PRÄSIDENT DES 13. EIDGENÖSSISCHEN SCHELLER- UND TRYCHLERTREFFENS IN MÄRSTETTEN TG

An Silvester also werden sich die Märstetter Treichlerinnen und Treichler wieder in Zweierkolonne aufstellen. Schlagen die Kirchglocken vier Uhr, marschiert der Treichlerzug los: vier Kilometer – nach jedem eine Pause – insgesamt zwei Stunden lang, durchs ganze Dorf. Am Schluss das infernalische Finale: Die Treichler treicheln in furiosem Tempo! Danach tut etlichen der Nacken weh, doch auf sie warten Mehlsuppe und Wienerli – wie seit vielen Jahren. «Vandalismus in der Silvesternacht – dieses Problem haben wir seither nicht mehr. Die Jugendlichen werden ihre Energie sonst los.» Den wahren Treichlern sei Dank! 

Thomas Kutschera
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Von Thomas Kutschera am 7. November 2021 - 08:09 Uhr