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Neues Velo-Team mit Marcello Albasini als Coach

Schweizer und Rad-Exoten fahren ihrem Traum entgegen

Drittklassiges Team, erstklassige Träume: Bei Nippo Provence PTS Conti leben und fahren junge Schweizer, Japaner, Äthiopier und Norweger ihrem Traum vom Profivertrag entgegen. Ein neues Projekt mit Herzblut, Tücken – und für Marcello Albasini ein 24-Stunden-Job.

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Reportage Trainer Marcello Albasini Jonathan Bögli, Schweiz Hagos Welay Berhe, Äthiopien in Lanterswil veröffentlicht SI SPORT 01/2021

Weil die Velos des Partners Cannondale noch nicht angekommen sind, fährt das Team noch auf geliehenen Rädern. 

Gian Marco Castelberg

Das Zmittag ist beendet, und die Jungs schütteln den Kopf, wenn sie nach draussen blicken. Stundenlang waren sie im Scheesturm und einer Handvoll Grad auf dem Velo unterwegs, und nun? Strahlt die Sonne vom blauen Himmel über dem thurgauischen Lanterswil. Lange halten sich der Pole Szymon Tracz, 22, der Japaner Hijiri Oda, 22, und der Äthiopier Hagos Welay Berhe, 19, aber nicht mit dem Wetter auf. Irgendwo läuft ein Frauenrennen, also müssen auf dem Handy die Resultate gecheckt werden.

Reportage Trainer Marcello Albasini Jonathan Bögli, Schweiz Hagos Welay Berhe, Äthiopien in Lanterswil veröffentlicht SI SPORT 01/2021

Gehört auch zum Team-Alltag im Thurgau: das gemeinsame Zmittag essen.

Gian Marco Castelberg

Die drei sitzen am Esstisch in der Küche ihres Trainers Marcello Albasini, 63. Dessen Frau Margrit hat gekocht. Das Nippo Provence PTS Conti Team hat für seine ausländischen Fahrer auch ein eigenes Teamhaus, nur wenige Kilometer entfernt. Noch allerdings ist es nicht ganz fertig eingerichtet, der Fernseher zum Beispiel fehlt noch, weshalb sie am Nachmittag oft bei Albasini Velorennen schauen dürfen. Teamsprache ist Englisch, «und wir hatten es von der ersten Ausfahrt an gut», sagt Jonathan Bögli, einer der Schweizer im Team. Man spricht übers Velo: Über die Minustemperaturen, bei denen der Norweger ohne mit der Wimper zu zucken fährt; wieso der Japaner nicht Bahnradfahrer wurde und wie der Äthiopier überhaupt zum Velo gekommen ist. Der Traum vom Profi-Radsport vereint die bunt gemischte Gruppe.

Reportage Trainer Marcello Albasini Jonathan Bögli, Schweiz Hagos Welay Berhe, Äthiopien in Lanterswil veröffentlicht SI SPORT 01/2021

Marcello Albasini ist einer der erfahrensten Trainer im Schweizer Radsport, hat mit Weltklasse-Fahrern gearbeitet. Er fordert viel, ist taff – «aber Menschlichkeit und Ehrlichkeit sind mir wichtig.»

Gian Marco Castelberg
Reportage Trainer Marcello Albasini Jonathan Bögli, Schweiz Hagos Welay Berhe, Äthiopien in Lanterswil veröffentlicht SI SPORT 01/2021

Das Teamhaus ist noch nicht ganz fertig. Der Velokeller befindet sich im Haus von Marcello Albasini, wo es genügend Platz hat

Gian Marco Castelberg

Dass die meisten Fahrer aus relativ exotischen Radsport-Ländern kommen, ist kein Zufall, sondern Konzept von «Pro Touch Global», welches hinter der Equipe steht. Die Agentur vermarktet und unterstützt junge Fahrer aus Ländern, in denen es nicht so einfach ist, Veloprofi zu werden, etwa weil die Strukturen fehlen. Ziel: das eine oder andere Juwel zu finden und es nicht einfach weiterzuvermitteln, sondern es ganzheitlich auf seinem Weg zu begleiten. Das geht am einfachsten mit einem eigenen Team, wobei es von der Idee zur Ausführung im vergangenen September nach Gesprächen mit den Partnern plötzlich schnell ging. Unter den Fahrern sind nebst Japanern und Äthiopiern auch Schweizer und Franzosen, die mit dem Thema Radsport aufgewachsen sind. So kann eine gegenseitige Befruchtung stattfinden. «Von den Fahrern und dem Mix her haben wir keinen schlechten Job gemacht», findet Agentur-Co-Besitzer Olivier Senn, der über die Plattform «Cycling Unlimited» unter anderem die Tour de Suisse vermarktet. «Das sind Athleten, die wissen, was sie wollen, und nicht nur auf dem Velo zusammenarbeiten.»

Die jungen Fahrer sollen nicht nur einen Vertrag in einem grossen Profiteam angeln, sondern sich auch menschlich weiterentwickeln. Im Teamhaus haben jeweils zwei Fahrer abends Kochdienst, Marcello Albasini und seine Frau kaufen für sie ein. Kost und Logis ist im Vertrag inbegriffen; auf Reisen, in Wettkampf und Training wird alles bezahlt, dazu gibt es eine kleine Entschädigung.

Hagos Welay Berhe, 19

Reportage Trainer Marcello Albasini Jonathan Bögli, Schweiz Hagos Welay Berhe, Äthiopien in Lanterswil veröffentlicht SI SPORT 01/2021

Hagos Welay Berhe ist ein riesiges Kletter-Talent, das nun Rennerfahrung sammeln soll. «Ich hoffe, dass sich meine Träume bald erfüllen.»

Gian Marco Castelberg
«Ich schlief pro Nacht nur drei Stunden»

Das erste Velorennen, das Hagos Welay Berhe sah, war die Tour de France. Da wusste er: Das will ich auch. Damals war er 13 oder 14 Jahre alt, lebte in Äthiopien; auf einem Velo gesessen war er noch nie. Er krempelt das Hosenbein hoch, eine Narbe am Unterschenkel zeugt von seinem ersten Versuch: ohne Balance, mitten auf der Strasse, es endete in einem Sturz. Die Eltern waren gegen das Velofahren, weil sie es gefährlich fanden, doch Hagos liess sich nicht mehr von seinem Traum abbringen. Eine Zeit lang lebte er auf der Strasse, die Eltern waren getrennt, die Situation schwierig. Am Tag putzte er Schuhe, nachts schlief er vielleicht drei Stunden, backte Brot, um das Geld zusammenzubekommen, für die Miete eines Velos. Irgendwann kam er in ein Team. Sie sagten ihm: «Du bist so stark. Du musst Rennen fahren!» Mehrmals war er äthiopischer Meister, zudem afrikanischer Junioren-Zeitfahrmeister. Über ein Programm der UCI durfte er im vergangenen Sommer ein Trainingslager im Centre Mondial du Cyclisme in Aigle absolvieren. Als er in die Schweiz kam, konnte er kein Wort Englisch. «Nun kann ich mich immerhin erklären.» Was ihn momentan am meisten belastet: Der Kontakt zu seiner Familie ist fast inexistent. In Tigray, seiner Region im Norden Äthiopiens, herrscht Krieg. Er weiss nicht, wie es seiner Familie geht, «das ist schwierig.» Umso mehr will er es als Radprofi schaffen – auch, um seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen. Hagos Welay Berhe erzählt in seiner zurückhaltenden Art, mit leiser Stimme und immer einem Lächeln. «Alles ist anders hier», sagt er zum Leben in der Schweiz, «aber es ist perfekt. Und ich habe den besten Trainer, der sich um mich kümmert.» Und er verspricht, seine Geschichte in einem Jahr in ausgiebigerem Englisch nochmals zu erzählen.

Während die Fahrer Rennen schauen, wuselt Marcello Albasini in Küche, Werkstatt und Wohnzimmer umher. Seit 1999 ist er Profitrainer, war bei Teams wie IAM Cycling angestellt oder in der Schweiz Nationalcoach. Ein Vollbluttrainer, der für seine Athleten alles gibt, wenn er sieht, dass sie spuren. «Wenn ich aber das Gefühl habe, einer investiert nicht richtig, ist er bei mir an der falschen Adresse.» Nachdem letzten Herbst klar war, dass sein Sohn Michael seinen Job als Nationaltrainer übernehmen würde, wollte Albasini senior kürzertreten, nur noch Einzelne wie die Schweizer Weltklassefahrer Stefan Bissegger oder Marlen Reusser betreuen.

Doch dann wurde aus dem Ruhestand das Gegenteil: beinahe ein 24-Stunden-Job. Denn bei Nippo Provence PTS Conti macht Albasini nicht einfach den sportlichen Aufbau, sondern ist auch erste Ansprechperson für die Fahrer im Team, schaut, dass die Mannschaftsautos beschriftet sind, kümmert sich um Arbeitsbewilligungen, bürgt sogar für sie, richtet das Teamhaus ein. Oder geht vorbei, wenn er ein SMS erhält, dass die Kloschüssel verstopft ist.

 

Reportage Trainer Marcello Albasini Jonathan Bögli, Schweiz Hagos Welay Berhe, Äthiopien in Lanterswil veröffentlicht SI SPORT 01/2021

Sie teilen nicht nur die Liebe zum Sport – sondern auch das Leben im Teamhaus im Thurgau.

Gian Marco Castelberg
Reportage Trainer Marcello Albasini Jonathan Bögli, Schweiz Hagos Welay Berhe, Äthiopien in Lanterswil veröffentlicht SI SPORT 01/2021

Team-Alltag im Thurgau: Velo putzen, Zmittag essen, Velorennen schauen. Marcello Albasini ist mehr als ein Teamchef, ist erste Ansprechperson für Probleme oder Fragen jeglicher Art.

Gian Marco Castelberg

Gerade die Sache mit den Papieren stellte sich um einiges herausfordernder dar als gedacht. Auf den Ämtern und im Umfeld erlebte er von grenzenloser Hilfsbereitschaft und spontanen Gutscheinen bis hin zu gefühlt extra hohen Hindernissen alles. Ein Spezialfall in dieser Hinsicht ist sicher Hagos Welay Berhe, der 19-jährige Äthiopier. Bei einer Reise an Rennen in die Türkei im Februar dachte das Team, dass es alle Papiere für ihn dabei hätte. Bei der Einreise in Istanbul liessen ihn die Behörden aber nicht weiter. Er verbrachte die Nacht im Gefängnis. «Wir konnten ihn nicht einmal kontaktieren», erzählt Albasini. Für Hagos müsse das ein Horror gewesen sein, weil er nicht wusste, ob sie ihn am nächsten Tag wirklich in ein Flugzeug nach Zürich stecken würden – oder nach Äthiopien, wo er aus dem Kriegsgebiet Tigray stammt.

Jonathan Bögli, 20

Reportage Trainer Marcello Albasini Jonathan Bögli, Schweiz Hagos Welay Berhe, Äthiopien in Lanterswil veröffentlicht SI SPORT 01/2021

Der 20-jährige Thurgauer Jonathan Bögli will sich innerhalb der nächsten beiden Jahre einen Profivertrag schnappen. Sonst beginnt er wohl zu studieren.

Gian Marco Castelberg
«Schwierig, wenn man kaum Resultate hat»

Seit er fünf Jahre alt war, träumte Jonathan Bögli davon, Profi zu werden – Eishockeyprofi. Noch mit 15 spielte er seine letzte Saison auf Eis. Die Schnittmenge der beiden Sportarten ist überschaubar; dass Bögli nun spitzenmässig Velo fährt, ist dennoch kein Zufall: Sein Vater fuhr Rennen auf Amateurniveau, zwei seiner Onkel fuhren ebenfalls, und einer besitzt ein Velogeschäft. «Als ich in Weinfelden mein erstes Rennen fuhr, wusste ich, dass ich Veloprofi werden möchte», so der 20-Jährige, der bei den Schweizer Meisterschaften der Junioren schon auf dem Podest stand. Im vergangenen Sommer hat er in Kreuzlingen die Matur erlangt und gibt sich nun etwas Zeit, um den Schritt zum Profi zu machen. Marcello Albasini attestiert dem starken Bergfahrer das Potenzial dazu. Ausserdem hat er den Lockenkopf in den ersten Wochen, die das Team gemeinsam in Südfrankreich, der Türkei oder Kroatien verbracht hat, als grossen Teamplayer erlebt. Für das Mannschafts- gefüge ist der Thurgauer mit seiner ruhigen, interessierten und hilfsbereiten Art schon jetzt enorm wichtig und verbindend. Nun geht es darum, Erfahrung zu sammeln. In Rennen, in denen seine Stärke zum Tragen kommt, und auch, wenn es nur darum geht, wie es abläuft, ein Paris– Roubaix für den Nachwuchs etwa. Dass letztes Jahr beim Nachwuchs nur wenige Rennen stattfanden, ist eine Herausforderung. Zudem hatte Bögli ein paar Stürze zu verschmerzen. «Es ist schwierig, sich zu sagen, dass man zu den Besten gehört, wenn man kaum Resultate und Vergleiche hat.» Ohne dieses Selbstbewusstsein wird es allerdings noch schwieriger. «Nicht verkrampfen» ist deshalb das Motto von Bögli, der in seiner Freizeit Gitarre spielt, kocht und deshalb im Garten seiner Eltern Gemüse anbaut.

Berhe ist ein Paradebeispiel für einen Fahrer, dem das Team eine Chance ermöglichen will. Seine Werte klassieren ihn als Supertalent, was ein Beispiel aus der Sportler-Plattform Strava zeigt: Bei einem Bergsegment – also einer definierten Strecke, deren Zeit beim Befahren von der App aufgezeichnet wird – im Tessin liegt er auf Platz zwei aller je gefahrenen Zeiten, direkt hinter Tour-de-France-Sieger Vincenzo Nibali. Das Talent ist also da, doch das allein macht noch keinen guten Rennfahrer; noch fehlt es ihm an Wettkampferfahrung. Ihn an den europäischen Spitzensport heranzuführen, ist nun Albasinis Aufgabe. Er will Berhe einerseits an Rennen einsetzen, in denen er Erfolgserlebnisse verbuchen kann. Aber auch dort, wo es hauptsächlich darum geht, Erfahrung zu sammeln. Das gilt für alle im Team. «Ich finde das wichtig. Du kannst ihnen nicht alle Steine aus dem Weg räumen. Manchmal müssen sie halt Fehler machen und daraus lernen», sagt Albasini, dem Ehrlichkeit und Menschlichkeit im Umgang mit seinen Sportlern wichtig sind. 

Es ist ein harter, unglamouröser Teil der Karriere: Jeden Tag stundenlanges Training, kleine Rennen ohne Zuschauer fahren und dabei so gut auf sich aufmerksam machen, dass die Chance auf einen grossen Profivertrag winkt. Davon träumen Tausende. 

Reportage Trainer Marcello Albasini Jonathan Bögli, Schweiz Hagos Welay Berhe, Äthiopien in Lanterswil veröffentlicht SI SPORT 01/2021

Eine Velokarriere ist nicht bloss eitler Sonnenschein – stundenlange Trainingsfahrten im Scheesturm und bei einer Handvoll Grad sind keine Seltenheit.

Gian Marco Castelberg

Die Coronakrise macht das nicht einfacher. Nicht im Wettkampfbetrieb, wo viele der Rennen auf diesem Level gar nicht durchgeführt werden. Und nicht im Team-Alltag. Denn die jungen Fahrer, die hier ausserhalb des Teams niemanden kennen, sollen auch in der Freizeit sinnvoll beschäftigt werden. «Man kann nach dem Training nicht einfach ins Hallenbad. Das macht das Ganze schwierig», sagt Albasini. Auch organisatorisch läuft noch nicht alles, wie es sollte. Da das Team ohne grosse Vorlaufzeit gegründet wurde und die Velohersteller wegen Corona ohnehin Produktionsprobleme haben, kamen die Velos des Partners Cannondale erst an, als die ersten Rennen schon gefahren waren. 

Zwischenmenschlich herausfordernd ist unter anderem die Sprachbarriere. Hagos muss Albasini jeden Tag zehn englische Wörter vorlegen, die er gelernt hat, er gibt sich Mühe. Der Japaner Oda kümmert sich sehr um seinen Zimmerkollegen, fragt nach, hilft ihm. Eine starke Verbindung, dieser grosse Traum, den sie teilen. Und dem alle im Thurgau etwas näherkommen sollen.

Von Eva Breitenstein am 23. April 2021 - 06:00 Uhr