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  4. Stefan Küng und Stefan Bissegger als Teil der Olympia-Vorbereitung im Höhentrainingslager

Stefan Küng und Stefan Bissegger auf dem Säntis

Hoch hinauf für den Höhenflug

Schlafen auf dem Säntis, zur Arbeit mit der Seilbahn: Das Höhentrainingslager von Stefan Küng und Stefan Bissegger ist ein Puzzleteilchen in der Olympia-Vorbereitung der beiden Weltklassefahrer, die Herkunft, Talent und Spitzname teilen.

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Kueng Stefan, Bissegger Stefan, Velo, Trainingslager, Saentis

Mit der Seilbahn zur Arbeit: Wenn schlechtes Wetter vorhergesagt ist, nehmen die beiden die Velos auf den Säntis, um auf der Rolle zu trainieren. 

Samuel Truempy

Das Fenster im Zimmer «Schibenstoll»  ist ein Tor in eine andere Welt. Wer auf dem Sims sitzt, muss schwindelfrei sein: Da gehts ohne Geländer den Berg hinunter, gibts nur noch Schnee, Eis, Fels. «Ich liebe die Berge; sie geben mir Kraft. Ich könnte stundenlang einfach hinausschauen», sagt Stefan Küng, 27. «Hier oben musst du dich gezwungenermassen mit dir auseinandersetzen.» 

Es ist Mai, der Frühling aber scheint noch fern. Wer mit der Seilbahn knapp unter dem Säntisgipfel auf 2502 Meter über Meer ankommt, findet im Gipfelgebäude auf mehreren Stockwerken Restaurants, Tagungsräume und eine Aussichtsplattform. Ins Reich der Velofahrer aber führt eine Tür und Treppe in den Keller. Der Gang ist dunkel, doch wer die einfachen Zimmer betritt, der steht mitten in der Bergwelt, den grossen Fenstern sei Dank. Für ein paar Wochen ist der Hausberg der Ostschweiz das Zuhause von Stefan Küng und Stefan Bissegger, 23. Nicht ganz zeitgleich sind sie hier, nur ein paar Tage überschneiden sich. Die beiden Zeitfahrspezialisten, die beiden Thurgauer, die beiden Stefans mit Spitznamen «Muni», die sich trotzdem gar nicht so gut kennen.

Ein Ausblick bis nach Hause

Das Prinzip des Höhentrainingslagers: In der Höhe leben und schlafen, unten trainieren; das Ziel ist die Leistungssteigerung, weil die Höhe die Produktion der roten Blutkörperchen ankurbelt (Details siehe Box). Viele Radfahrer verbringen Wochen in der Sierra Nevada oder fahren auf Teneriffa x-mal auf den Vulkan Teide. Küng und Bissegger hingegen sehen von der Aussichtsplattform bis nach Hause und fahren in ihrem gewohnten Trainingsgebiet. «Es ist toll, dass wir von unseren Teams diese Freiheit erhalten haben», sagt Küng, der bisher jeweils im Engadin im Höhentrainingslager war. 

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Gemeinsam Höhenmeter abspulen: Die Passstrasse der Schwägalp aus Drohnensicht.

Samuel Truempy

Das Lager auf dem Gipfel kam durch eine Partnerschaft der Säntis Bergbahnen mit dem Fleischproduzenten Micarna zustande, dem gemeinsamen Sponsor von Küng und Bissegger, der neben ihnen zahlreiche weitere Ostschweizer Sportler unterstützt. Es ist allerdings nur für die beiden eine Premiere: Michael Albasini, der Schweizer Strassen-Nationaltrainer und Ex-Profi, verbrachte sein Höhentrainingslager viele Jahre hier oben. Mit schönen Folgen: Die Masseurin, die er hier kennenlernte, ist heute seine Frau.

Heute sitzen Küng und Bissegger im Aufenthaltsraum. Chia-Pudding mit Baumnussöl gibts zum Zmorge, weil nicht viel auf dem Programm steht – ein Ruhetag nach den 5000 Höhenmetern vom Vortag. Ansonsten haben sie verschiedene Müesli, Erdnussbutter oder Bananen hier oben. Und Bissegger hat seine grosse Siebträger-Kaffeemaschine in einem Koffer hinaufgeschleppt – der kleine Luxus, morgens einen Cappuccino machen zu können. Dazu gibts eine Kochnische mit zwei Herdplatten. «Wir kochen beide gern und gut, aber Riesenmenüs kochst du hier nicht, was aber nicht schlimm ist.» Frühstücken können sie im Hotel Säntis bei der Talstation der Seilbahn, wo sie auch ihre Sportwäsche abgeben dürfen und sauber zurückbekommen.

«Es war Zeit, sich auf Tokio hin wieder 100 Prozent auf den Sport zu konzentrieren»

Stefan Küng

Das Leben hier oben bietet alles, was es braucht, man muss bloss ein bisschen mitdenken. Ist für den nächsten Tag schlechtes Wetter vorhergesagt, kauft man im Tal besser heute schon alles Nötige ein; denn dann fährt die Seilbahn nicht. Auch das Velo wird in dem Fall nach dem Training nicht im Auto bei der Talstation versorgt, sondern kommt per Seilbahn mit auf den Berg, fürs Rollentraining tags darauf. Bei Bisseggers Aufenthalt hier war das gleich mehrmals der Fall. Dann ist keine Menschenseele auf dem Berg, «also hab ich die Rolle vor einem Panoramafenster aufgestellt. Leider war es meistens einfach weiss draussen.»

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Küng geniesst die Ruhe nach dem Training beim Lesen und Rausschauen.

Samuel Truempy

Das Höhentrainingslager im Alpstein ist für die beiden Veloprofis ein Puzzleteil auf dem Weg zum Saisonhöhepunkt, den Olympischen Spielen in Tokio. Gegeneinander fahren werden sie in Japan allerdings nicht. Wie Küng, der 2015 Weltmeister in der Einerverfolgung auf der Bahn war, startete auch Bissegger seine Karriere im Velodrom. Das Ziel wäre gewesen, nach Tokio 2020 endgültig auf die Strasse zu wechseln. Da die Spiele verschoben wurden, hat er beschlossen, in Japan doch noch einmal mit dem Bahnvierer anzutreten. Zumal die Strecke des Zeitfahrens am Fuss des Vulkans Fuji Bissegger nicht entgegenkommt. Dennoch hat er längst auch auf der Strasse Ausrufezeichen gesetzt. So hat er dieses Jahr das Zeitfahren bei Paris–Nizza gewonnen, wurde an der Tour de Romandie im Kampf gegen die Uhr Zweiter, gewann an der Tour de Suisse eine Etappe und war 2019 U23-WM-Zweiter. 

Bissegger ist gelernter Velomechaniker und verbringt seine freie Zeit auf dem Säntis mit Autotuning-Videos. «Ich bin technikbegeistert, das ist auch, was mich an der Formel 1 fasziniert. Die Aerodynamik und alles, was drumherum läuft. Das ist so komplex. Das macht mir Freude.» Selbstredend beschäftigt er sich auch mit den Feinheiten seiner verschiedenen Velos.

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Bissegger hat seine Siebträger-Kaffeemaschine auf den Säntis geschleppt, um Cappuccino zu machen.

Samuel Truempy

Ein Unterschied zu Stefan Küng, der das Velo ab einem gewissen Punkt dem Mecha-niker überlässt. Der 1,93-m-Mann musste sich ursprünglich zwischen einem Studium und der Velokarriere entscheiden und braucht auch heute den Ausgleich im Kopf. Er liest viel, hier oben gerade ein Buch über die frühere italienische Einwanderungswelle in die Schweiz, und interessiert sich für die Trainingswissenschaft. In seiner Zeit auf dem Säntis aber sucht er -bewusst keine andere Beschäftigung. Denn in der letzten Zeit forderte einiges seine Aufmerksamkeit: So zog er mit seiner langjährigen Freundin um. Und ist Mitbegründer eines Velo-cafés mit integriertem Veloladen, das diesen Sommer im Stadtzürcher Quartier Enge Eröffnung feiern soll. Überall hat er mitgeplant, mitorganisiert. «Hier hinaufzu-kommen, ist wie ein Schnitt. Ich wusste, dass ich Abstand nehmen möchte. Die anderen -Projekte haben viel vom Fokus gebraucht», sagt er. «Ich kam an den Punkt, an dem ich spürte: Es ist Zeit, sich auf Tokio hin wieder -hundert Prozent auf den Sport zu konzentrieren.» 

«Mir als Technikbegeistertem machen Tuning-Videos Freude»

Stefan Bissegger

Die Berge helfen ihm dabei. Blickt er aus seinem Fenster, kann er alle Gipfel aufzählen und bei den meisten gleich noch von Wanderungen erzählen, die er gemacht hat. Schon früher hat ihm die Einsamkeit der Natur in den Höhentrainingslagern neue Frische und Energie für den Kopf verliehen, wenn er sein Velo nach einem Rennen am liebsten in den Keller gestellt hätte. 

Der Fokus auf den Sport ist wichtig, schliesslich kann es für Küng nur noch grosse Ziele geben. Letztes Jahr war er im Zeitfahren Europameister und WM-Dritter, im Jahr davor WM-Dritter im Strassenrennen. An der Tour de France unmittelbar vor Tokio nahm er den zweiten Rang im Zeitfahren als schwere Enttäuschung hin. Der Kurs in Tokio ist auch nicht auf ihn zugeschnitten, hat zu viele Höhenmeter, aber so denkt ein Profi natürlich nicht. «Du musst mit dem leben, was es gibt», sagt Küng.

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HÖHENTRAININGSLAGER: DAS PASSIERT IM KÖRPER.

Rote Blutkörperchen transportieren den Sauerstoff von der Lunge in die Muskeln. Wer mehr davon hat, kann also bessere Ausdauerleistungen erbringen. In der Höhe hat man aufgrund des geringeren Luftdrucks weniger Sauerstoff zur Verfügung. Der Körper passt sich an, indem er mehr rote Blutkörperchen produziert. Von diesen wollen die Sportler profitieren, wenn sie nach dem Höhentrainingslager im Flachland Rennen haben – denn die Gesamtmenge an roten Blutkörperchen ist eine Hauptkomponente für die Ausdauerleistungsfähigkeit. Damit der Ausdauersportler vom Effekt profitiert, sind drei bis vier Wochen à 14 Stunden/Tag auf einer Höhe von 2500m.ü.M. ideal. 

Samuel Truempy

Der Trainingsteil in einem Höhenlager muss sorgfältig geplant werden. Für den Körper bedeutet der Aufenthalt in der Höhe Stress, er erholt sich langsamer, hat schon damit zu tun, sich der Höhe anzupassen. Deshalb sollte man das Training in der ersten Woche gemächlich angehen, vor allem bezüglich Intensität. Ansonsten droht die Gefahr, in ein Loch zu fahren, von dem man sich so schnell nicht mehr erholt. Nicht bei allen Menschen hat das Höhentrainingslager denselben Effekt. Dieser lässt sich mit einem aufwändigen Labortest vor und nach dem Lager messen; ist das einmal getan und weiss man, wie gross der biologische Nutzen ist, geht es vor allem um das Gefühl und die Erfahrung. Küng weiss mittlerweile, am wievielten Tag nach dem Lager das obligate Leistungsloch und wie viel später der Effekt zum Tragen kommt. Natürlich haben die modernen Radfahrer auch Gadgets – die Sauerstoffsättigung messen sie mehrmals am Tag, und Bissegger trägt eine Uhr, die seine Daten inklusive Schlafqualität in die Trainingsplattform seines Teams einspeist. 

Schwitzen, obwohl draussen 10 Grad ist

Küng setzt seinen Körper noch mehr Stress aus. Als Vorbereitung auf die Hitze in Tokio geht er ab und zu direkt nach dem Training im Hotel Säntis in die Sauna. Gemäss Studien ordne der Körper nicht ein, wann was passiert ist, weiss Küng. «Er merkt einfach, dass er überhitzt ist, und passt sich an. Manchmal lief ich danach eine halbe Stunde lang in der Unterhose durchs Zimmer und schwitzte, obwohl draussen 10 Grad war.»

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Bissegger hätte eigentlich Ende 2020 von der Bahn auf die Strasse wechseln wollen. Nun gibt er in Tokio nochmals für den Bahnvierer Gas. Küng fährt das Strassenrennen und das Zeitfahren.

Samuel Truempy

Um den vollen Effekt der Höhe auszunutzen, müsste man mindestens drei Wochen lang dort leben. Weil das nicht immer möglich ist, haben sich Küng wie Bissegger als Ergänzung auch zuhause eingerichtet. Während der Jüngere ein Zelt gekauft hat, wandelte der Ältere vor seinem Säntis-Aufenthalt gleich das ganze Schlafzimmer in eine Höhenkammer um. Dabei pumpt ein Generator sauerstoffarme Luft ins Zimmer; er ist so laut, dass er ihn in einem Nebenzimmer platziert. Schlüsselloch und Türspalt werden abgedeckt. Das zischende Geräusch, wenn der Generator Luft hineinbläst, «klingt wie Meeresrauschen», findet Küng. 

«Ein kleines dickes Munilein»

Beim ersten Zusammentreffen nach den gemeinsamen Tagen auf dem Säntis liefern sich die Stefans ein Duell um den Sieg an der Tour de Suisse. Im Auftakt-Zeitfahren hat Küng die Nase um vier Sekunden vorn. Ein Kampf der Munis, den es wohl noch ein paarmal geben wird auf internationalem Parkett. Bliebe zu klären, weshalb die beiden denselben Spitznamen teilen. Küng erhielt ihn, weil er in seinen Anfängen auf dem Velo alles mit Kraft erzwingen wollte. So nannte ihn Bahn-Nationaltrainer Daniel Gisiger Muni. Dann kam Bissegger, ebenfalls aus dem Thurgau, «ein kleines dickes Munilein», wie er heute scherzt, weil er den kräftigen Körperbau seiner Eltern geerbt hat «und sie gut gekocht haben». So passte der Name eben zu beiden. Hängen blieb er vor allem beim Jüngeren, man findet ihn darunter sogar auf Instagram. Mit dem Kopf durch die Wand und Power ohne Ende – von solchen Velo-Munis verträgt die Schweiz locker zwei. 

Von Eva Breitenstein am 23. Juli 2021 - 08:00 Uhr