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Dominique Gisin

«Oft bin ich den Tränen nah»

Auf Mallorca bereitet sich Abfahrts-Olympiasiegerin Dominique Gisin auf die neue Skisaison vor. Noch heute wird die Obwaldnerin auf der Strasse auf ihren Triumph angesprochen. «Da kommen stets wieder Emotionen hoch», sagt sie der «Schweizer Illustrierten».

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Muy bien», sagt Javier, «du passt wunderbar in unser Team!» Der Einheimische ist Chef der Rettungsschwimmer hier an der Playa de Muro. Er deutet auf den roten Rettungsturm. «Das wäre dein Arbeitsplatz, bonita.» Dominique Gisin schüttelt den Kopf, ihr sonniges Lachen auf dem Gesicht. «Dafür kann ich zu schlecht surfen. Und im Sommer wärs mir viel zu heiss hier!» Temperaturen bis 25 Grad seien okay. «Aber am liebsten bin ich im Schnee.»

Hier in der Nähe von Alcúdia, an der Nordküste Mallorcas, ist es 23 Grad. Azurblaues Meer, breiter Sandstrand. Doch die Abfahrts-Olympiasiegerin von Sotschi macht keine Ferien. Mit Denise Feierabend, Wendy Holdener, Nadja Jnglin-Kamer und zehn weiteren Athletinnen des Alpin-Kaders von Swiss Ski absolviert die 28-jährige Obwaldnerin aus Engelberg das erste Konditionstraining, eine Woche lang. Rennvelo-Touren, Yoga, Koordinationsübungen, Stand-up-Paddeln und Wellenreiten stehen auf dem Programm. Hans Flatscher, Cheftrainer Frauen: «Dominique ist gut in Form, sie gibt Vollgas, will weitere Siege.»

Um 8 Uhr ist es losgegangen: vom Teamhotel aus, auf Rennvelos des Radsportferien-Anbieters Hürzeler. 120 Kilometer weit, vorbei an Fincas und blühendem Ginster, mit 30 km/h. Am Nachmittag eine Runde Beachvolley, dann Rumpfübungen und Liegestütze auf dem Board draussen auf dem Meer. Nun sitzt Gisin unter Pinien, vor sich ein Lemon-Soda mit Eis.

Eine bewegte Zeit liegt hinter ihr. 12. Februar: Gisin holt in Sotschi Gold in der Abfahrt, zeitgleich mit Tina Maze. Als ihr Sieg feststeht, will sie nur eins: telefonieren! Ihre ersten Worte: «Omi, do esch d Dominique…» Dann kniet sie nieder, weint ungehemmt, lässt ihre Grosseltern an ihrem bisher grössten Triumph teilhaben, vor laufenden Kameras. «Ich bin so glücklich, dass Grosspapi diesen Sieg noch erleben durfte.» Dieser war schwer krank, kurz darauf verstarb er. «Ich habe ihm so viel zu verdanken.» Er war ihr erster Skitrainer.

Auch Dominiques Eltern und die Geschwister Michelle und Marc glaubten immer an sie, waren stets da, wenn sie am Verzweifeln war. Neun Knieoperationen. «Ich dachte so oft: Nun reichts, ich will nicht mehr. Doch ich hatte das Glück, dass mich in solchen Momenten immer jemand auffing.» Was sie antreibt, ist die Freude am Skifahren. «Und die Überzeugung, dass ich es kann. Ich kämpfte!»

Ein langer, steiniger Weg. «Ich mag ihn niemandem gönnen. Für mich war er der richtige.» Lange Zeit habe sie sich nicht mehr als eine richtige Athletin gefühlt. Seit dem Olympiasieg ist das Gefühl der Ohnmacht weg. «Ich fühle mich befreit.»

Tausende von Gratulationen gingen ein: Mails, SMS, Telefonate. Beigenweise Postkarten und Briefe, viele von Unbekannten. Marie-Theres Nadig, Erika Hess, Pirmin Zurbriggen, Vreni Schneider meldeten sich - die Glarnerin war 1994 die letzte Schweizer Olympiasiegerin im Ski alpin. «Alles Helden, meine Vorbilder.» Stan Wawrinka twitterte. «Mega cool!», sagt Gisin. Viele Leute schickten ihr die halbe Lebensgeschichte. «Ich versuche, all diesen Menschen zu schreiben. Um ihnen zu danken.» Auch Gott ist sie dankbar. «Ich bete oft.»

Dominique schaut aufs Meer. «Oft bin ich den Tränen nahBis heute wird sie häufig auf den Tag ihres Triumphs angesprochen, auf der Strasse. «Die Leute erzählen mir dann ganz aufgeregt, wie sie all die Jahre mitfieberten und mitlitten, wie sie sich mit mir freuten, oder sie bitten um ein gemeinsames Foto, viele mit Tränen in den Augen. Dann muss ich mich zusammenreissen, um nicht loszuheulen. Ich finde das so herzig, so berührend.» Sie selbst stand einmal bei der Passkontrolle hinter Sänger Herbert Grönemeyer. «Ich getraute mich nicht, ihn um ein Autogramm zu bitten.» Anders die Situation in einem österreichischen Restaurant: «Alle wollten ein Autogramm, ich kam fast nicht zum Essen.»

Noch nicht zum Feiern gekommen ist sie mit Tina Maze. «Mit dem gemeinsamen Sieg wurde das Band zwischen uns noch stärker.» Gisin erinnert sich: «Als Siebenjährige träumte ich, den Final des Ovo-Grand-Prix mit meiner Kollegin Tamara zu gewinnen.»

Die Goldmedaille von Sotschi hat ein schönes Plätzchen bekommen, daheim in der elterlichen Stube in Engelberg. In der Nacht nach dem Olympiasieg trug Dominique sie um den Hals. «Damit ich beim Aufwachen merkte, dass es kein Traum ist.» Gisin hat in Engelberg eine eigene Wohnung. Im Schnitt einen Tag pro Woche lebt sie dort, ohne ihren Freund, einen Arzt. Seit fast zwei Jahren sind die beiden ein Paar. Nach Ostern verreisten sie für zwei Wochen in die Ferien. Wohin, will Dominique nicht verraten - «es war unter 25 Grad». Während dieser Zeit habe sie nie daran gedacht, Olympiasiegerin zu sein. «Ich war in einer anderen Welt, das tat gut.» Seit der Heimkehr setzt es sich langsam, «dieses wunderschöne Gefühl». Als Belohnung hat sie sich ein neues MacBook gekauft. «Das alte hielt nur dank vielen Tapes.»

Ihren 29. Geburtstag am 4. Juni feiert Gisin im Trainingslager in Österreich. Fürs Fest daheim wird ihre Mutter Dominiques «absolute favourite» kochen: Älplermagronen. Dazu gibts ein Glas Roten. Hoffentlich, sagt sie, sei tags danach schönes Wetter, für ihre Hobbys: Golfen (Handicap 10) und Fliegen. Dominique hat das Privatpilot-Brevet, kommt pro Sommer auf 20 Flugstunden, meist startet sie vom Flugplatz Kägiswil OW. Dann fliegt sie übers Engelbergertal, auch schon um die Jungfrau. Vergangenen Sommer besuchte Dominique ein Konzert von Bryan Adams. Favoriten auf ihrem iPod: Mando Diao, Queen, Beatles, Yeah Yeah Yeahs. «Ganz cool»: Of Monsters and Men.

Die Sonne versinkt hinter den Pinien. Seit fünf Jahren könne sie fast immer ohne Schmerzen Ski fahren. Mitte August beginnen die Skitrainings: erst einen Monat Ushuaia in Argentinien, dann Zermatt und Saas-Fee, am 25. Oktober Saisonstart in Sölden, Österreich. Und die Olympischen Winterspiele 2018 in Südkorea? «Bleibe ich von gesundheitlichen Probleme verschont, warum nicht?» Der Sieg in Sotschi hat ihr Flügel verliehen.

Von Thomas Kutschera am 1. Juni 2014 - 03:00 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 17:21 Uhr