Marcel Koller, wieviel Geld würden Sie auf eine erstmalige Viertelfinalqualifikation der Schweiz bei der WM in Russland wetten?
(lacht) Ich bin keiner, der wettet. Und im Fall des Fussballs weiss ich, wie wenig planbar ein Resultat ist. Es sind Kleinigkeiten, die über Erfolg oder Misserfolg entscheiden, ob du einen Lauf hast, ob du deine Chancen verwertest. Oder auch, ob du das Glück hast, dass der Gegner seine Chancen nicht verwertet und du gewinnst.
Aber es gibt Teams, auf die man ohne grosses Risiko wetten kann.
Klar, das sind die Topnationen mit der grösseren individuellen Qualität wie Brasilien, Deutschland, Argentinien. Die Schweiz gehört da nicht ganz dazu, auch wenn sie gerade eben gegen Spanien gezeigt hat, wie gereift sie ist.
Da spricht auch die eigene Erfahrung mit Österreich an der EM 2016 mit, als nur wenig fehlte, man am Ende aber trotzdem mit leeren Händen dastand.
Genau, im ersten Spiel schiesst Alaba gegen Ungarn nach 30 Sekunden an den Pfosten. Geht der Ball rein, kommen wir vielleicht in einen Lauf, und alles endet ganz anders. Es geht jeweils nur um ganz kleine Nuancen, um Centimeter.
Dann fragen wir etwas bescheidener: Was spricht dafür, dass es die Schweiz gegen Brasilien, Serbien und Costa Rica in den Achtelfinal schafft?
Dass sie mittlerweile die Erfahrung und damit die entsprechende Ruhe im Spiel hat. Brasilien ist in dieser Gruppe unbestritten. Dann geht es wohl zwischen der Schweiz und Serbien um den zweiten Achtelfinalplatz. Gegen die Serben haben wir mit Österreich auch gespielt – eine sehr unangenehme, abgebrühte Mannschaft mit offensiv sehr starken Einzelspielern wie Tadic, Mitrovic oder Kostic. Körperlich sehr robust und gross und deshalb bei Freistössen und Corners immer gefährlich. Verteidiger Ivanovic kommt in jedem Spiel zu Kopfballchancen. Costa Rica ist einmal mehr die ziemlich grosse Unbekannte, vermutlich eher auf Defensive und Konter ausgerichtet, und immerhin mit dem Champions-League-Sieger Navas im Tor.
Seit Brasilien sind starke junge Spieler dazugekommen
Am Ende entscheidet ja sowieso die Leistung der Schweizer selbst. Wie hat sich die Mannschaft seit der WM 2014 entwickelt, in den vier Jahren unter Vladimir Petkovic?
Es ist keine markant andere Mannschaft mit einer völlig anderen Spielweise. Wie gesagt kommt als wichtigste Verbesserung die nochmals grössere Erfahrung dazu. Das Team wird kaum noch durch etwas überrascht und verunsichert werden, was sich an diesem grossen Turnier abspielt. Und dann sind seit Brasilien starke junge Spieler dazugekommen, die auf Anhieb Stammspieler im Ausland waren, wie Embolo, Zakaria oder Akanji. Dass sie womöglich in der Nati noch hinter Leuten wie Xhaka, Behrami oder Dzemaili zurückstehen müssen, spricht für die Substanz dieser Mannschaft. Man ist nun auch auf der Bank sehr stark besetzt. Und die Routiniers sind kaum schwächer als damals. Man schaue nur Stephan Lichtsteiner an, der mit 34 dynamischer über die Seite kommt denn je. Und jetzt durch den Transfer zu Arsenal zusätzlich beflügelt sein wird. Er hält das Team auch zusammen.
Galerie: So schön ist die Schweizer Nati
Und was spricht gegen einen Achtelfinalisten Schweiz?
Eigentlich nicht sehr viel. Vielleicht, dass einige Akteure in ihren Klubs wenig spielten, gerade in der Offensive. Seferovic oder Embolo etwa. Wobei ich das nicht überbewerten würde. Klar ist es am besten, wenn die Akteure mit viel Spielrhythmus zur Nati kommen. Aber wenn man die Spieler vor einem Turnier relativ lange beisammen hat, kann man viel vom fehlenden Spielgefühl durch den Trainingsrhythmus ersetzen. Und ich verstehe da Petkovic, dass er ungeachtet ihrer Klubsituation auf jene Spieler zählt, die ihn in den wichtigen Spielen nicht enttäuscht haben. Was sicher etwas fehlt, ist ein echter Topstürmer aus einem Spitzenklub. In der Defensive wirkt die Mannschaft schon deutlich gefestigter, auch wenn Petkovic da zuletzt verschiedene Varianten ausprobiert hat. Vielleicht variiert er da je nach Gegner. Gegen Brasilien eher der quirlige Akanji, gegen die Serben eher der kopfballstarke Djourou.
Gerade erst hat Österreich Deutschland besiegt und die Schweiz in Spanien ein Unentschieden geholt. Es waren zwar nur Freundschaftsspiele, aber dennoch: Ist die Weltspitze breiter geworden, haben die «Kleinen» aufgeholt?
Das kann ich nur bedingt bejahen. In der Defensivarbeit, dem Spiel gegen den Ball, der Organisation haben sich viele in den letzten Jahren auf ein recht hohes Niveau gebracht. Aber wenn es dann gilt, mit dem Ball zu arbeiten, wird’s schwieriger. Da haben halt die Grossen noch immer viel mehr Spieler, die technisch in der Lage sind, jeden Pass bei jedem Tempo annehmen und präzise spielen zu können, die die spezielle Wahrnehmungsfähigkeit für Spielsituationen haben. Die WM in Russland wird kaum eine neue Hierarchie im Weltfussball begründen.
Die Schweiz ist nicht einfach zufällig dort, wo sie steht
Die Schweiz ist derzeit die Nummer sechs der Weltrangliste. Nehmen Sie das ernst?
Eine gewisse Aussagekraft hat die Weltrangliste durchaus. Die Schweiz ist nicht einfach zufällig dort, wo sie steht. Sie hat eine sehr starke Qualifikation gespielt und nur den Europameister vor sich gehabt. Das Unentschieden in Spanien bestätigt ja eigentlich die aktuelle Klassierung. Aber die Rangliste nach der WM wird sicher mehr Gewicht haben, weil die Meisterschaftsspiele stärker zählen. Die Russen etwa sind ja deshalb zurückgefallen, weil sie keine Qualifikation zu spielen hatten. Man sollte also aus Schweizer Sicht nicht aufgrund der Weltrangliste die Viertelfinal-Qualifikation voraussetzen.
Galerie: Hautnah unterwegs mit unserer Nati
Wen Sehen Sie also an der WM 2018 vorne?
Es wird kaum grosse Überraschungen geben. Brasilien, Argentinien, Frankreich, Spanien, Deutschland, Belgien – die haben alle soviel individuelle Klasse, dass sie bis in die Turnier-Endphase dabeisein sollten. Aufgrund der vielen Spiele, die ich in der Vorbereitung auf meine Experten-Tätigkeit für die ORF gesehen habe, steht für mich Spanien ganz vorne unter den Titelanwärtern.
Man hatte in den vergangenen Jahren den Eindruck, die Entwicklung des Fussballs in Richtung immer mehr Tempo und Athletik würde den europäischen Fussball bevorteilen. Können die Südamerikaner noch mithalten?
Die Beobachtung stimmt. In Europa hat man da auch bezüglich Trainingslehre die anderen Kontinente etwas distanziert. Aber die vielen Spieler anderer Kontinente, die in Europa spielen, haben sicher auch viele Inputs in ihre Nationalteams gebracht. Trotzdem sehe ich ausser Brasilien und Argentinien tatsächlich kaum eine südamerikanische Mannschaft, die mit den Weltbesten mithalten kann.
Und die Afrikaner? Es war ja zuletzt immer so, dass die überragende Einzelspieler hatten wie jetzt Salah, Mané, Obi Mikel oder Iwobi, aber an der WM kaum ein Team je über den Viertelfinal hinaus gekommen ist. Diesmal?
Man erwartet afrikanische Teams seit 15, 20 Jahren an der Weltspitze, weil die Spieler extreme physische Fähigkeiten und auch Talent haben. Aber es wird wohl auch diesmal dabei bleiben, dass sie in der Endphase nicht mehr dabei sind. Ihr Problem ist halt, dass sie letztlich einfach nicht die Disziplin und «Verbissenheit» haben, die es neben dem Talent halt auch braucht. Da können auch die vielen europäischen Trainer in Afrika kein Umdenken erzwingen.
Welchen Einfluss hat der jüngste Transfersummen-Wahnsinn auf die WM?
Eigentlich keinen grossen. Abgesehen vielleicht von den Engländern, bei denen ein Grossteil der Schlüsselpositionen in den Klubs von Ausländern besetzt sind, weil alle Vereine unglaublich viel Geld investieren können. Da spielen die einheimischen Spieler eher eine untergeordnete Rolle. Und das macht die Nationalmannschaft sicher nicht stärker.
Ein Sensationsteam wie die Isländer oder Wales an der Euro 2016 wird also nicht in die Weltspitze vordringen?
Nicht bis unter die letzten vier. In der Gruppenphase sind Überraschungen durchaus möglich oder sogar zu erwarten. Wie gesagt, ist das sehr vom Turnierstart abhängig. Aber je länger das Turnier dauert, desto besser sind die Grossen in der Lage, auf Unvorhergesehenes zu reagieren, sich veränderten Voraussetzungen anzupassen, Druck auf den Gegner aufzubauen. Bei den Isländern ist es so, dass man sie nun halt viel besser kennt. Ich habe sie zweimal beobachtet. Die spielen immer noch genau gleich, mit unglaublich viel Disziplin, auf Konter ausgerichtet. Allerdings haben sie noch immer den Vorteil, dass niemand etwas von ihnen erwartet.
Gespannt auf Neymar, Di Maria, Suarez, Cavani, Kroos, Mbappé, Shaqiri
Wird auch an dieser WM ein Schlüssel zum Erfolg sein, dass man über spielstarke Aussenverteidiger verfügt?
Davon gehe ich aus, ja. Das Tor steht in der Mitte und folglich versucht man, in der Mitte dichtzumachen, massiert zu stehen. Das ergibt die Möglichkeit, über die Aussenpositionen in den Rücken der Verteidigung zu gelangen. Und das ist schwieriger zu verteidigen. Dafür braucht die angreifende Mannschaft starke Aussenspieler, die sich im eins gegen eins durchsetzen können. Wer die hat, ist im Vorteil.
Auf welche Einzelspieler freuen Sie sich ganz speziell? Es wird ja wohl das letzte Mal sein, dass man die Ausnahmekönner Messi und Ronaldo am gleichen Turnier im Einsatz sieht. Sind ihre Nachfolger in Russland schon dabei?
Ich bin besonders gespannt auf die Vorstellungen von Neymar oder Di Maria, aber auch auf Suarez und Cavani, die für Uruguay ein unheimliches Angriffsduo bilden und viele Tore schiessen können. Bei den Deutschen könnte Kroos zur grossen Figur werden mit seiner unglaublichen Ruhe und Übersicht am Ball. Vom Franzosen Mbappé ist ebenfalls Grosses zu erwarten, wie von den Belgiern Lukaku und Eden Hazard, der mir mit seiner Spielweise extrem gut gefällt. Und dann darf man auch Xherdan Shaqiri nicht vergessen, der ähnliche Qualitäten hat wie die genannten Stars. Er ist bullig, kräftig, stark am Ball und beim Dribbling, ein Linksfuss, denen ich sowieso besonders gerne zuschaue.
Ein grosses Thema wird in Russland mit Sicherheit der Videobeweis sein. Ist die Zeit wirklich reif dafür?
Man wird es sehen. Er wurde ja am Confed-Cup schon ausprobiert mit einigen falschen Torentscheidungen, die dank ihm korrigiert werden konnten. Wie sich allerdings die vielen Unterbrechungen im Spiel auswirken werden, bleibt abzuwarten. Wenns um Tore geht, kann das schon Gerechtigkeit schaffen. Aber man muss dann ja auch Fouls hinter dem Rücken des Schiedsrichters im Mittelfeld sanktionieren, irgendwelche Szenen abseits des eigentlichen Spielgeschehens. Wo hört das dann auf?
Ich höre eine gewisse Skepsis bei Ihnen heraus.
Nicht in jeder Hinsicht. Aber grundsätzlich gefällt mir schon besser, wie das in England gehandhabt wird. Da wird der Schiedsrichter von den Akteuren und vom Publikum unterstützt in seiner Arbeit. Die Zuschauer haben da ein Gespür für die Situationen, tolerieren Schauspielerei und Simuliererei nicht, versuchen auch nicht, den Schiedsrichter durch Geschrei zu einem Pfiff zu veranlassen. Man akzeptiert auch, wenn der Unparteiische mal einen Fehler macht, weil das halt einfach dazugehört. So ist viel mehr Zug im Spiel, auch die Vorteilregel wird viel besser angewendet. Ich finde das sehr cool, da braucht es den Videobeweis gar nicht. Mich regt es ja schon auf, dass ein Verteidiger heutzutage mit der Hand hinter dem Rücken in den Zweikampf gehen muss, weil er sonst dauernd einen Penalty wegen Handspiels riskiert. Das ist doch nicht mehr normal.
Die Erwartungshaltung in der russischen Öffentlichkeit ist riesig
Abgesehen vom Sportlichen: Kann Russland eine Fussball-WM?
Die Mannschaft scheint derzeit nicht extrem stark zu sein. Und von deren Resultaten hängt auch die Begeisterung im Land ab. Gewinnen die Russen, wird in den Stadien einiges los sein, gewinnen sie nicht, wird’s wohl schnell ziemlich ruhig. Die Erwartungshaltung in der russischen Öffentlichkeit ist riesig und kann entsprechend stark in sich zusammenfallen. Aber grundsätzlich habe ich bei den Spielen mit Österreich gegen die Russen viel Fussball-Euphorie im Land erlebt.
Wo werden Sie die WM verfolgen? Reisen Sie als ORF-Experte nach Russland?
Nein, ich werde die ganze WM am Bildschirm sehen. Es sind jetzt mal elf Tage vorgesehen, an denen ich als Experte im Studio in Wien kommentiere. Deshalb werde ich auch die ganze Zeit in Wien bleiben. Ich freue mich sehr auf diese neue Tätigkeit. Das wird spannend. Vielleicht kann ich die WM sogar mehr geniessen als zu Aktiv- oder Trainerzeiten, auch wenn ich mich zur Vorbereitung derzeit ebenfalls sehr intensiv und sorgfältig mit den einzelnen Teams und Spielern befassen muss, täglich zwei, drei Spiele ab Video anschaue.
Kribbelt es denn bei Marcel Koller schon wieder richtig nach einem halben Jahr Pause vom Spitzenfussball?
Durchaus, ja. Die Pause hat mir extrem gut getan, nachdem ich mir anfänglich eine längere Zeit ohne Fussball nicht so recht vorstellen konnte . Ich bin fit und bereit für eine neue Herausforderung.
Als Nati- oder doch eher als Klubtrainer?
Ich habe sechs Jahre als Natitrainer gearbeitet und ziehe ein durchwegs positives Fazit. Aber im Moment zieht es mich grundsätzlich schon eher wieder in den Klubfussball und die tägliche Arbeit mit den Spielern rund ums Jahr. Doch es hängt in erster Linie von den Möglichkeiten und Angeboten ab, wo und wie ich wieder als Trainer tätig sein werde.
Also müssen wir den Traum von einem Schweizer Naticoach Marcel Koller noch nicht ganz begraben?
(lacht ausgiebig) Wer weiss? Irgendwann – ich schliesse nichts aus!