Das «Kriegsschiff mit Kanone» ziert im Kunstmuseum Bern eine ganze Wand. Miriam Cahn zeichnete die expressive Serie im XXL-Format. Mit Kohle und geschlossenen Augen, liegend, kriechend, kauernd. Eine furiose Performance, bei der sich die 69-jährige Baslerin einst nachhaltig den Rücken ruinierte.
Cahn geht ans Limit. Ihre Bilder wirken hingeschleudert wie im Zorn. Sie legen zwischenmenschliche Beschädigungen frei, zeigen Gewalt und Geilheit, Zärtlichkeit und Schmerz, Verführung und Verstümmelung. «Wut ist ein guter Motor», sagt sie trocken lächelnd. «Altersmilde ist von mir nicht mehr zu erwarten.»
«Sexraum»: Das pornografische Kabinett
«Ich als Mensch» heisst die Solo-Schau (bis 16. Juni), die sie selber kuratiert und gehängt hat. Ihre Kampfansage an die Erwartungen einer «weiblichen Ästhetik» umfasst 180 expressive Arbeiten aus allen Schaffensperioden. Sie geben Einblick in das Werk einer Frau, die wie keine zweite das Ausstellungsjahr 2019 rockt.
Miriam Cahn erscheint mit verstrubbelten Haaren herrlich uneitel zum Pressetermin. Mit ihrer orangen Weste ist sie schon von Weitem zu erkennen. Gängige Schönheitsideale sind ihr wurscht. Auch Small Talk liegt ihr nicht besonders. Lieber kommt sie gleich zur Sache. Und erläutert den Kunstsachverständigen, wie sie schockiert war, als sie die Museumsräume zum ersten Mal betrat: «Ich fand die abgedeckten Fenster und Zwischenwände unerträglich.»
Ebenso unerträglich muss ihr Œuvre für Zartbesaitete sein. Beim Rundgang führt sie die Besucher auch in den «Sexraum». So nennt die Malerin das pornografische Kabinett. Ihre Klitoris-Version von Gustav Courbets «Der Ursprung der Welt» zieht alle Blicke auf sich. Man schaut direkt auf die Scham einer verschleierten Frau. Die hellblaue Burka hat sie bis zu den Brüsten hochgezogen. Damit übt Cahn Kritik an der scheinheiligen Verhüllungsdebatte. Und am männlichen Blick auf den weiblichen Körper.
Gleichwertigkeit der Geschlechter
Ihre Message lautet: Die Frau ist kein sanftes Wesen. Es geht Cahn um die Gleichwertigkeit der Geschlechter. Man muss als Frau noch immer lieb sein, wenn einem einer dumm kommt. Die #MeToo-Debatte, erläutert sie in einem ihrer seltenen längeren Interviews, habe einmal mehr gezeigt, dass Frauen noch immer nicht als Menschen wahrgenommen werden, die auch böse und aggressiv reagieren dürfen. «Wären die Frauen zorniger, würde so Zeugs nicht ständig passieren.»
«Europa hat die Flüchtlinge fallen lassen»
Je mehr man sich auf ihr provokatives Spiel einlässt, desto klarer wird: Hier ist eine am Werk, die auf dem Zenit ihrer Karriere kein Blatt mehr vor den Mund nimmt. «Weiss fickt schwarz» heisst einer ihrer jüngeren Streiche. Darauf hat ein Schwarzer mit roten Lippen den Penis eines Weissen im Mund. Die subtile Angst vor dem Fremden, vor allem dem schwarzen Mann, findet seine Fortsetzung in ihren Flüchtlingsbildern.
Auch da hält Cahn schonungslos den Spiegel vor. Wie Quallen schweben engelsgleiche Wesen durchs Wasser. In der Tiefe wird es dunkel. Das Mittelmeer als Massengrab. «Europa hat die Flüchtlinge fallen lassen.» Spricht sie über das Elend der Migration, beginnt ihre Stimme sanft zu beben.
Cahn, die gern «Picasso geworden wäre», begleitet ihr Schaffen stets auch literarisch. Manchmal klingen die Selbsterforschungen bitter. Oft sind sie frech, humorvoll und direkt. Ihr eigenes Begehren als Frau («ich bin nicht gegen Pornografie»), das Älterwerden («es ist Scheisse») und die Suche nach einem Lebensweg in völliger Unabhängigkeit («Einsamkeit ist für mich kein negativer Begriff») treiben die Selbstsichere an und um.
Der Zorn ist
ein guter Motor
Ihre Kindheit ist belastet. Der Vater ist Jude und Münzhändler. Die Mutter depressiv. Die Schwester, ein Junkie, begeht Selbstmord. Miriam ist ein widerborstiger Charakter, wird zur Rebellin. In Paris klaut sie in schicken Läden. 1979 verhaftet man sie, weil sie aus Protest gegen den Bau der Basler Nordtangente Kohlezeichnungen an der Brücke anbringt. Die Aktion macht das Jungtalent auf einen Schlag berühmt.
Seit 2011 lebt die Künstlerin in Stampa GR in einem Haus, das einer Garage gleicht. Vier Monate verirrt sich kein Sonnenstrahl hierher – und auch keine Touristen. Das lässt Cahn in Ruhe an Bildern arbeiten, die von beängstigender Klarheit sind. Vielleicht ist das ihr Geheimnis: dass sie sich einen unschuldigen Blick auf eine schuldige Welt bewahrt hat.