Sie weiss schon genau, wie es geht: «Schue alegge! Helm alegge!», ruft die kleine Lisa aufgeregt. Dann setzt sie sich auf ihr rosarotes Laufrad. Die Beinchen gerade lang genug, um abzustossen. Doch die knapp Zweijährige saust lachend und ohne Zögern über die steilsten Abfahrten und Wellen auf dem Pump-Track mitten in Chur.
Warum auf dem geteerten Rundkurs bleiben, wenns über Kies und Wiese daneben so richtig schön rüttelt? «Die Furchtlosigkeit und das sportliche Talent hat sie vom Papi», sagt Mutter Nina, 31, stolz. Dieser Papi heisst Nino Schurter und ist der beste Mountainbiker der Welt.
Lisa ist ganz stolz auf den Papa
Als Nino Schurter, 31, an der WM in Cairns, Australien, mit hochgereckten Armen zu seinem sechsten Weltmeistertitel fährt, jubeln Nina und Lisa in der Bündner Heimat vor dem Bildschirm mit. «Lisa hat gelacht, gejauchzt und den Fernseher geküsst», erzählt Nina gerührt.
Es ist nicht nur für Schurter, seine Familie und sein Team ein spezieller Sieg. Es ist ein Sieg für die Sportgeschichtsbücher: Schurter ist nun Rekordweltmeister im Cross-Country! Er krönt damit seine Saison im Goldrausch. Im März gewinnt er das Mehrtages-Teamrennen Cape Epic in Südafrika, dann sämtliche sechs Weltcuprennen und damit den Gesamtweltcup.
Dass er seine Siegesserie nach der vergangenen, märchenhaften Saison mit Weltcupsiegen, dem fünften WM-Titel und dem lang ersehnten Olympiagold in Rio fortsetzen kann, überrascht niemanden. Ausser ihn selber. «So gut zu sein wie in Rio, das werde ich wohl in den nächsten zwei, drei Jahren nicht mehr schaffen», sagte Nino Schurter Ende 2016.
Die Kraft der Lockerheit
Falsch! Kurz darauf überraschte ihn die Kraft der Lockerheit. Die Olympiasaison 2016 hat er bis in die letzten Einzelheiten geplant, akribisch an seiner Form gefeilt, pingelig auf die Ernährung geachtet: Er verzichtet auf Eier, Laktose und Gluten. Und tüftelt mit seinen Mechanikern am Material.
Ein Relikt seiner Detailarbeit hängt noch in seiner Garage an der Wand: ein Plan des Cross-Country-Parcours von Rio, auf dem jede Steigung, jedes Hindernis und jede wichtige Stelle eingezeichnet ist. Den Plan der aktuellen WM-Strecke sucht man vergebens. «Nach Olympiagold war ich befreit. Ich wusste, ich muss niemandem mehr etwas beweisen. Deshalb konnte ich dieses Jahr entspannter an den Start gehen, und es lief einfach.»
Der Drang zur Perfektion
Auch punkto Ernährung ist Nino Schurter nicht mehr so strikt. «Ich habe gemerkt, dass ich es letzte Saison vielleicht etwas zu weit getrieben habe», sagt er, der nun zwar zwei Kilogramm schwerer ist als damals, jedoch nichts von seinem Leistungsvermögen eingebüsst hat. «Er isst jetzt auch mal Brot oder gönnt sich ein Dessert», erzählt Nina.
Die neue Gelassenheit soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Schurter, von seinen Ambitionen getrieben, nach wie vor hart trainiert. Das neue Gold-Ziel: die Heim-WM 2018 auf der Lenzerheide. Sein Drang zur Perfektion schlägt aber im Alltag noch immer durch.
Schurter ist Kaffee-Fachmann
Zum Beispiel beim Kaffeemachen: Mit dem ersten Cappuccino aus seiner Profi-Maschine – er ist ein Kaffee-Fachmann – ist er nicht zufrieden. «Der Mahlgrad und die Menge passen noch nicht genau», sagt er und serviert Minuten später die neue Tasse samt Herzen im Milchschaum.
Für einmal nicht um Leistung geht es für Schurter mit Tochter Lisa auf dem Pump-Track. «Es ist schön zu sehen, wie schnell sie Fortschritte macht – aber vor allem, wie viel Freude sie hat. Die Fröhlichkeit hat sie von Nina.» Der Spass an der Bewegung und speziell am Velofahren zeichnet auch Schurter aus.
Lisa hat den besten Bike-Lehrer
Bereits in der Woche nach der WM ist er wieder auf zwei Rädern unterwegs. «Kein Training, einfach Velo fahren.» Und selbst in wichtigen Rennen, wenn es um alles geht, drückt er seine Begeisterung mit Tailwhips oder spektakulären Sprüngen aus.
Anfang Oktober heissts für Familie Schurter Koffer packen. Die drei verreisen mit dem neuen Wohnmobil für drei Wochen in die Ferien nach Sardinien. Auf der Rückreise legen sie einen Stopp in der Toskana ein, wo Ninos Bruder Mario eine eigene Bike-Schule hat. Velotechnisch hat Lisa diesen Halt nicht nötig: Den besten Bike-Lehrer hat sie sowieso immer an ihrer Seite.