René Groebli ist nicht der Typ, der sich besonders wichtig nimmt. Trotzdem ist ihm wichtig, wie die Nachwelt über sein Œuvre denkt. Was er im Leben erreicht hat. Wer er war.
Ein Suchender und Finder
Wer aber ist Groebli? Der 91-jährige Fotopionier mit dem Lausbubengrinsen und den weissen Locken denkt lange über die Antwort nach. Zeit, das coole Styling des rüstigen Seniors zu bewundern. Ist der Mann etwa farbenblind? Im Gegenteil: Von der Unterhose bis zur Brille beweist er modischen Mut. Sein Faible für Violett und Giftgrün ist legendär. Sogar die Kugelschreiber in der Hemdtasche passen zum Tenue.
Galerie: Fotoperlen des Chronisten
«Man nennt mich nicht umsonst ‹Master of Color›», sagt der Zürcher lachend. Auch wenn er den Titel eher seinen Experimenten in der Fotografie verdankt. Für Werbeaufnahmen montierte er in den 60er-Jahren Farbfolien vor Lampen, veränderte im Studio die Wirklichkeit. «Meine Technik kam an, weil sie frech, anders, modern war.» Bis heute ist er ein Suchender, ein Finder – ein Erfinder.
Ein geregeltes Leben
Gut, dass der «Magier der Dunkelkammer» jetzt den Spot noch einmal auf sein Lebenswerk richtet. Stolz präsentiert Groebli in seiner Zürcher Wohnung im Seefeld die brandneuen Druckfahnen des Werkverzeichnisses. Ein Kurier brachte ihm das Paket eben nach Hause. Maler, Musiker und Bildhauer haben einen «Catalogue Raisonné». Warum nicht auch ein Fotograf? Er ist 252 Seiten stark und enthält 1200 Ikonenbilder aus allen Schaffensperioden. «Die restlichen Negative habe ich vernichtet. Es waren Tausende.»
Den schmerzvollen Prozess des Weglassens nahm er gelassen. «Ich wollte nicht, dass nach meinem Tod Kuratoren, Galeristen oder Ausstellungsmacher entscheiden, welche Bilder gut sind und welche nicht.» Auch den Nachlass hat er geregelt: «Mein Lebenswerk geht an die Genfer Stiftung Auer in Hermance.»
Früh gewusst, was er will
1927 in Zürich Enge geboren, ist der Prokuristensohn 18 Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende geht. Erste Aufnahmen zeigen den Morgennebel über der Limmat. Es sind düstere, melancholische Stimmungen. Früh sprengt er die Grenzen seiner bürgerlichen Herkunft. An der Konfirmation eröffnet er den Eltern, dass er die Schule schmeisst, um Fotograf zu werden. Sie sind geschockt. Lange hält er es in Hans Finslers Fotofachklasse an der Kunstgewerbeschule Zürich nicht aus, wird der erste diplomierte Kameramann der Schweiz. «Die neue Sachlichkeit war nicht mein Ding. Ich bin ein Vollblutromantiker, liebe Emotionen und Erlebnisse.» Wenn man Groeblis Erzählungen lauscht, fühlt man sich mitten in einen Agententhriller hineinversetzt.
Als Pressefotograf begegnet er dem ersten Kaiser von Äthiopien. Besucht Flüchtlingscamps in Jordanien. Ist in Persien dabei, als es wegen der Ölkrise fast zum Krieg kommt. Seine Reportagen werden in Magazinen wie «Life», in der «Woche» und in «Picture Post» gedruckt. Doch das Abenteuer geht ihm an die Nieren. Von einer Schlacht bringt er ein Trauma mit nach Hause, von dem er sich nur schwer erholt: «Auf einem Kasernenareal sah ich, wie ägyptische Soldaten am eigenen Blut erstickten. Lange litt ich unter Klaustrophobie, hatte fürchterliche Erstickungsanfälle.»
Groebli, der Vorreiter
Er wendet sich der stillen Seite der Fotografie zu. Traumhaft assoziierte Bilderreihen entstehen. In «Magie der Schiene» fotografiert er 1949 im Führerstand einer Express-Dampflokomotive die sanfte Seite des schnaubenden Monsters. Heute ist die Mappe ein Sammlerstück. Die bewusst eingesetzten Stilmittel wie Unschärfe und Bewegung irritieren. Selbst die Kunstzeitschrift «Du» verweigert die Publikation. Begründung: alles verwackelt!
Groebli nimmt die Vorreiterrolle gelassen. Ähnlich ergeht es ihm mit seinen farbigen Frauenporträts. Sie entstehen Mitte der 50er-Jahre in New York, fast zur selben Zeit, als Andy Warhol mit seinen Siebdrucken die Epoche der Pop-Art einläutet und mit Alltagsmotiven die Welt erobert. Einen Blick durchs Schlüsselloch gewährt er in der Serie «Das Auge der Liebe». Mit seiner Frau Rita, die er seit der Kunstgewerbeschule kennt, setzt er erotische Inszenierungen im Hotelzimmer um. Sogar während der Hochzeitsreise in Paris! «Der Concierge wollte uns rauswerfen, weil immer ‹diese Nackte› am Fenster stand.» Dass die leicht verruchten Aktfotos in den 50er-Jahren zur sexuellen Stimulanz dienten, amüsiert Groebli noch heute. Das Paar bleibt kinderlos. Rita stirbt 2013 mit 90 Jahren. «Sie war der toleranteste Mensch auf Erden und der Meinung, ein Künstler könne nicht 100 Prozent monogam leben.»
Die Frauen und Groebli
Groebli und die Frauen – ein aufregendes (und vermutlich langes) Kapitel. Mit Isabella von Seckendorff verbindet ihn eine enge Freundschaft. Die Künstlerin führte zusammen mit ihrer Mutter Johanna im Art-Museum in Uitikon-Waldegg ZH ein Leben in Weiss. Nun ist die Mama gestorben. «René half uns bei unserem letzten Buch. Und ich unterstütze ihn bei seinen Projekten.»
Am 17. Januar findet Groeblis Buchvernissage in der Bildhalle in Zürich statt. In Berlin ist im Frühjahr eine Ausstellung geplant. Jeden zweiten Tag fährt er mit seinem knallroten Renault nach Brugg AG ins Atelier. Es ist über 100 Quadratmeter gross. Hier tobt er sich kreativ aus. In einem Zimmerchen steht sogar ein Bett, falls es mal spät wird. Bis zur Decke stapeln sich in Kisten und Regalen Passepartouts, Rahmen, Papier und Erinnerungen. Hinter jeder Momentaufnahme steckt eine Geschichte. René Groebli, sagen seine Fans, ist ein kreativer Geist, der die Gabe hat, sinnliche Wahrnehmungen so zu fotografieren, dass man sie spüren, riechen, fühlen kann. Vom zischenden Rauch einer Dampflok bis zum Bettlaken voller Liebe.