Den Mund aufreissen, das geht noch nicht. Wenn Stefan Küng lächelt, werden die Spange und die kleinen Gummizüge dazwischen sichtbar. Es sind Überbleibsel der jüngsten Verletzung – sein Kiefer brach nach einem Sturz im Feld von Paris–Roubaix gleich an mehreren Stellen. Velofahren geht aber schon wieder hervorragend, an der Tour de Suisse, die heute am 9. Juni quasi vor seiner Haustür in Frauenfeld begann, holte er sich gleich den Etappensieg.
Drei Jahre ist es her, seit der Thurgauer in seine erste Profisaison auf der Strasse gestartet ist. Voller Selbstvertrauen, frisch dekoriert mit einem Bahn-Weltmeistertitel und als Cancellara-Nachfolger für Zeitfahren und Klassiker gehandelt. Und dann erlebt der junge Fahrer in diesen drei Jahren mehr als andere Profis in einem Jahrzehnt. Solosiege wechseln sich ab mit Stürzen, lange Regenerationszeiten mit dem knapp verpassten grossen Coup, dem Leadertrikot zum Auftakt der Tour de France 2017.
Das ausgeprägte Selbstvertrauen ist noch da, der Hunger, die Lust am Velofahren. Küng strahlt wie immer, wenn er von seinem Lieblingsrennen Paris– Roubaix spricht, auch wenn er es zwei von vier Mal nicht beendet hat. Aber man spürt, dass nicht alles spurlos am 24-Jährigen vorbeigegangen ist. Der 1 Meter 93 grosse «Muni von Fischingen», wie sie ihn früher nannten, weil er alles mit Kraft erzwingen wollte, ist gereift.
«Durch die Verletzungen habe ich ein grosses Verständnis für meinen Körper bekommen», sagt Küng. Auch nach dem Kieferbruch verzichtet er deshalb auf Schmerzmittel. Um genau zu spüren, was der Körper braucht. Küng hat gelernt, Stürze möglichst schnell zu verarbeiten, abzuhaken und wieder nach vorn zu blicken. «Damit ist der grösste Schritt getan.»
Durch die Verletzungen habe ich ein grosses Verständnis für meinen Körper bekommen.
Allerdings ist das nicht immer so einfach, wie es klingt. 2015 etwa erhält er nach starkem Saisonstart die Diagnose Wirbelbruch. Ein Schock, auch wenn sich die Verletzung schlimmer anhört, als sie war.
Für Körper und Kopf am schwersten zu verdauen ist der Sturz an den Schweizer Meisterschaften 2016, als Küng Fabian Cancellara bei dessen letztem Auftritt im Zeitfahren unbedingt bezwingen will. Zu viel Risiko an der falschen Stelle, ein Eigenfehler, Sturz. Dabei geht auf der linken Seite das Schlüsselbein kaputt, rechts die Hand, zudem trägt er ein zertrümmertes Becken davon. «Ich konnte nicht einmal allein die Boxershorts hochziehen», erinnert sich Küng. Erst nach zwölf Wochen geht er, ohne zu hinken.
Ich konnte nicht einmal allein die Boxershorts hochziehen.
Die noch grössere Herausforderung ist es für den Kopf. «Es dauerte sehr lange, bis ich wieder Vertrauen in meine Fähigkeiten hatte.» Die Anzahl der Stürze – selbst verschuldet wie unverschuldet – fällt auf, seine Fahrkünste werden laut in Frage gestellt. «Wenn du das alles hörst, denkst du: Ich kann nicht Velo fahren!» Verstärkt wird die Kritik durch die Tatsache, dass Küng zwei Monate später den Bahnvierer an den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro zu einer Medaille hätte führen sollen – sein letzter grosser Traum als Bahnfahrer platzte.
Es dauerte sehr lange, bis ich wieder Vertrauen in meine Fähigkeiten hatte.
Überehrgeiz mit Folgen
«Es war der Überehrgeiz, der mich zu fest angetrieben hat», stellt Küng fest. «Eigentlich ist Ehrgeiz ja keine schlechte Sache. Aber man muss auch eine gewisse Gelassenheit bekommen, die ich damals nicht hatte. Das war ein Lernprozess. Ich musste mich fragen: Wann lohnt sich wie viel Risiko?» Heute verliert er lieber ein Rennen wegen einer Sekunde, als dass er in Risikosituationen «zwei von zehn Mal» mit einem Bruch am Strassenrand liegt. Und die Stürze im Feld, die gibt es einfach. «Man kann sich nicht vorstellen, wie eng das ist!» Sechs Stunden hochkonzentriert fahren, bloss Zentimeter hinter dem Vordermann, bei schlechten Strassen und Dreck.
Wenn du das alles hörst, denkst du: Ich kann nicht Velo fahren!
Als sich Küng «fest, fest» Gedanken macht, stellt er irgendwann fest: Um schon nur an diesen Punkt zu kommen, wie er, muss man ein sehr guter Velofahrer sein. «Klar bin ich kein Peter Sagan. Und ich bin technisch nicht der Beste – aber auch nicht der Schlechteste.» An der Romandie etwa gewann er 2015 eine Etappe, in dem er in einer Abfahrt im Regen allen davonfuhr.
Ich bin technisch nicht der Beste – aber auch nicht der Schlechteste.
Seinen Zielen haben die Rückschläge keinen Abbruch getan: Paris– Roubaix zu gewinnen, ist sein grosser Traum. Und nachdem er 2017 beim Auftakt-Zeitfahren der Tour de France wegen bloss fünf Sekunden Zweiter wird, weiss er, dass er auch dort mit der Weltspitze mithalten kann.
Training in Neuseeland
Zieht man die Frühjahrsstürze ab, hat Küng eine gute Vorbereitung hinter sich. Und gleichzeitig eine spezielle: Mit seiner Freundin reiste er zwischen dem letzten Saisonrennen und dem ersten Trainingslager drei Monate lang durch Neuseeland. Sie lenkte den kleinen Campervan an den nächsten schönen Ort, er fuhr die vier bis fünf Stunden mit dem Velo. «Es war so cool. Ich hatte das Gefühl, doppelt so viel Energie wie sonst zu besitzen.»
Aber ich hatte immer meine Chancen. Und ich habe mich gut entwickelt, bin glücklich im Team.
Diese möchte Küng nun unbedingt an der Tour de Suisse einsetzen. Und dann sollte sich auch langsam seine Zukunft klären. Der Fortbestand seines Teams BMC, bei dem er bereits im Nachwuchs fuhr, ist – Stand Mitte Mai – noch ungesichert. Küng hofft, dass es weitergeht. «Ich bin aber auch an einem Punkt in der Karriere, in dem ich mich mit Fragen beschäftige wie: Will ich in dieser Rolle bleiben oder eine andere übernehmen?» In einem starken Team wie BMC kann er nicht immer auf eigene Rechnung fahren, muss er etwa Olympiasieger Greg van Avermaet bei den Klassikern oder Richie Porte an der Tour de France helfen. «Aber ich hatte immer meine Chancen. Und ich habe mich gut entwickelt, bin glücklich im Team.»
Die Wettkampfpause wegen des Kieferbruchs warf Küng physisch kaum zurück. Er nutzte die Zeit für eine kleine Entgiftung – da der Kiefer voll geschlossen war, schmiss er alles Frische, Gesunde in den Mixer und schrieb sich Rezepte auf. Schnell abhaken und nach vorn schauen – das scheint Stefan Küng verinnerlicht zu haben.