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  4. René Prêtre: Das grosse Interview mit dem Schweizer des Jahres

René Prêtre

«Was gut aussieht, funktioniert auch gut»

René Prêtre operiert immer noch. Sonst ist vieles anders als vor seiner Wahl zum Schweizer des Jahres 2009. Der Kinder-Herzchirurg aus Boncourt JU über afrikanische Skulpturen, Liebesbriefe, böse Vorwürfe – und warum es manchmal gut ist, weit weg zu sein.

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Als der Swiss Award über ihn kommt, ist René Prêtre in Maputo, Mosambik, und «kriegte da unten gar nicht so viel mit». Was es heisst, Schweizer des Jahres 2009 zu sein, wird ihm erst nach seiner Rückkehr bewusst. «Meine Kollegen haben jeden Artikel über mich ausgeschnitten und mein Büro damit dekoriert», sagt der Jurassier. Diese Ruhmes-Tapete hat er abhängen lassen – bis auf ein paar Zeitungsausschnitte an der Tür. Auf der Fensterbank drängeln sich afrikanische Figuren.

SI: René Prêtre, Ihre Leidenschaften sind Herzchirurgie, Fussball und Kunst. Wir sehen Sie umgeben von afrikanischen Frauenskulpturen.
René Prêtre: Am Strand von Maputo sitzen junge Männer, hören Musik und schnitzen wunderschöne Figuren aus Holz. Einer von ihnen ist Maurice Douglas. Seine Beine und Arme sind fehlgeformt, er läuft schwerfällig. Es sieht aus, als ob er Kinderlähmung hatte. Bei ihm habe ich mir letztes Jahr ein Rhinozeros gekauft. Er macht fröhlich sein Ding und verdient damit sein Leben. Ich bat ihn, die Steinlöwen vom Londoner Trafalgar Square für mich zu schnitzen.

Und die hat er gekannt?
Er hatte noch nie von diesem Platz gehört, und das Foto, das ich ihm gezeigt habe, nutzte wenig. Jetzt habe ich eben einen Disney-Land-Löwen. Während des Medizinstudiums studierte ich zeitweise Kunst und Bildhauerei. Beides hat mein räumliches Sehen geschult. Wenn ich operiere, sehe ich das Herz wie eine kleine Skulptur, und so bearbeite ich es auch.

Was ist Ihre zärtlichste Erinnerung an Afrika?
In Maputo gibt es nichts, was besonders schön ist. Höchstens das Meer und den bunten Wochenmarkt. Doch die Menschen lachen und sind sympathisch. Es gibt so viele Kinder, sie spielen Fussball, streiten und schreien, sind immer draussen. Nehmen wir Yudmila …

…das Mädchen, das wir im Video beim Swiss Award sehen konnten…
…ihre Eltern hatten ihr lauter kleine Zöpfe geflochten und das beste Kleid angezogen – als ob sie in die Kirche gehen würde und nicht ins Spital. Die Menschen dort haben grosse Achtung: Vielleicht klappt die OP – vielleicht auch nicht. In der Schweiz habe ich manchmal das Gefühl, die Menschen nehmen die Krankenversorgung zu selbstverständlich.

Was hat sich verändert, seit Sie gewählt wurden?
Ich habe über tausend E-Mails bekommen. Hunderte Briefe, viele sind handgeschrieben. Die Menschen haben Fotos von sich beigelegt. Allein in Mosambik erreichten mich Hunderte SMS. Im Moment komme ich gar nicht dazu, alle Glückwünsche zu lesen, da ich von morgens um acht bis abends um acht im OP stehe. Wir haben viele Notfälle, und unser Programm ist voll. Das steht an erster Stelle. Irgendjemand hat sogar ein René-Prêtre-Facebook-Profil eröffnet. Offenbar gibt es dort 1500 Einträge. Ich war noch nie auf dieser Website! Wie geht das!?!

Was schreiben die Menschen?
Ich lese oft: «Das haben Sie verdient.» Viele sagen, dass sie bei meiner Wahl vor Freude geweint hätten. Das berührt mich sehr. Einige finden, dass die Schweiz wieder ein sympathisches Gesicht habe. Viele Eltern fragen, ob ich mir ihre herzkranken Kinder anschauen kann. Es kommt mir manchmal so vor, als sehen sie in mir ihre letzte Chance. Sogar ein älterer Mann bittet mich, ihn zu operieren. Es wird langsam Zeit, alle Briefe zu beantworten. Stella Anastasio, meine Sekretärin, und ich kommen nicht mehr nach. Deshalb habe ich vor zwei Tagen die Klinikleitung gebeten, mir eine zweite Mitarbeiterin zur Verfügung zu stellen.

Wie viele Liebesbriefe liegen auf Ihrem Nachttisch?
Ehrlich gesagt: kein einziger. Frauen haben mir weisse Rosen geschickt, dazu ein Kärtchen mit ihrer Handy-Nummer. Ich finde es nett. Sie wollen mit mir Kaffee trinken gehen.

Familie L.* hat unserer Redaktion einen Leserbrief geschickt. Sie erhebt schwere Vorwürfe gegen Sie und das Kinderspital. Ihrer Tochter sei auf Ihrem OP-Tisch «wenig Göttliches» widerfahren. Die Folgen: Hirnschaden, Sprachstörung, Schluck- und Koordinationsprobleme.

Dazu darf ich nichts sagen, es handelt sich um ein laufendes Haftpflichtverfahren. Es tut mir sehr leid, dass es diesem Kind nicht so gut ging wie erwartet. Ich verstehe auch die Enttäuschung der Eltern. Nur so viel: Falls etwas passiert ist, dann einige Tage nach der Operation auf der Intensivstation. Das klärt gerade ein Gutachter. Ich stehe dazu, wenn ich einen Fehler mache. Doch hier muss ich mir wirklich nicht viel vorwerfen.

Wie schmal ist der Grad zwischen Leben und Tod?
Wenn das Herz nicht mehr schlägt, denken die Menschen: Das Leben geht. Wissenschaftlich gesehen ist das anders. Ich, der Arzt, kann den Patienten an die Herz-Lungen-Maschine anschliessen, das Herz fällt in sich zusammen und der Kontrollbildschirm zeigt nur noch eine grade weisse Linie an. Wir schneiden das Organ auf, flicken Löcher oder Herzklappen. Das Kind lebt in dieser Zeit weiter. Und dann nehmen wir die Maschine ab, und das Herzchen schlägt plötzlich wieder. Wir sind nicht auf der Seite des Todes, höchstens gefühlsmässig. Sondern stets auf der Seite des Lebens.

Haben Sie eine Maxime, nach der Sie handeln?
Was gut aussieht, funktioniert auch gut. Selten akzeptiere ich Kompromisse – sehr zum Leid meines Teams. So ist mein Charakter. Ich mag ästhetisch schön ausgeführte Arbeit, ich operiere gern, und das am liebsten in aller Ruhe.

Eigentlich gut, dass Sie bei Ihrer Wahl so weit weg waren, oder?
Wenn ich hier gewesen wäre, hätte ich die Fassung verloren. Es ist das eine, so eine Nachricht per Handy zu erfahren. Vor den Fernsehzuschauern etwas Kluges sagen, das ist das andere. Meine Videobotschaften hat das Schweizer Fernsehen zwei Tage vor der Sendung aufgezeichnet. Für den Bereich «Gesellschaft» fiel es mir leicht, etwas zu sagen und meiner Mutter ein Geburtstagsgeschenk zu machen: Ich konnte ihr via TV gratulieren. Als mir die Journalistin sagte, ich solle jetzt noch so tun, als ob ich Schweizer des Jahres wäre, hat sich alles in mir gesträubt. Wie freut man sich? Ruft man «Yippiiie» oder was? Wir haben vier Beispiele gedreht, eins grässlicher als das andere. Danach sagte ich: Nehmen Sie, was Sie wollen. Das ist eine Produktion fürs Archiv, die wird nie und nimmer ausgestrahlt.

Wofür schlägt Ihr Herz am heftigsten?
Jetzt? Für mein Bett. Die Nächte in Maputo waren heiss und kurz. Ich habe schlecht geschlafen. Wir haben morgens um acht begonnen und zweimal bis elf Uhr abends operiert. Jetzt bin ich wieder daheim, in «meinem Viertel». Mein OP ist eingerichtet, wie ich es brauche. Hier habe ich meinen Lieblingsfaden. Skalpell und Klemmen liegen, wo ich es will. Nach jeder Rückkehr fühle ich mich wie der Reisende, der endlich heimkommt und sein Zuhause findet, wie er es verlassen hat.

* Name der Redaktion bekannt.

Von Stefanie Ringel am 3. Februar 2010 - 13:24 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 22:24 Uhr