Ich war ein fröhliches, zufriedenes Kind. Und doch überfiel mich regelmässig ein gewisser Weltschmerz. Dieses Gefühl, der übergrossen Ungerechtigkeit in dieser Welt so machtlos gegenüber zu stehen. Manchmal hatte es nicht mal einen spezifischen Grund. Manchmal schon. Manchmal hatte er tatsächlich damit zu tun, dass ich mich ungerecht behandelt fühlte. Aber sehr oft auch nicht.
Ich erinnere mich an Dutzende Male, als ich weinend von der Schule nach Hause kam – weil etwas Furchtbares passiert war, das absolut nichts mit mir zu tun hatte. Zum Beispiel als die Buben meiner Klasse, es muss in der dritten oder vierten gewesen sein, unseren Mitschüler Toni in einen Abfalleimer steckten und diesen die Treppe runterschubsten. Ich weinte oft wegen Toni. Er wohnte in meinem Quartier, und alle wussten, dass er zu Hause verprügelt wurde. «Zeig mal deine Streifen am Rücken», hänselten ihn die Jungs auf dem Pausenplatz. Einmal hab ichs der Lehrerin gesagt. Sie zuckte nur die Schultern und meinte «Buben!». Damals, Mitte der Achtziger Jahre, eine vollkommen akzeptable Reaktion. Für mich immer wieder ein Grund, an der Welt, die doch eigentlich so schön und gross und spannend war, zu zweifeln.
«Mich scheissen nicht mal die Trumps und Musks und Putins an, sondern die ganz normalen Menschen im ganz normalen Alltag.»
Mit den Jahren hat sich mein Hang zum Weltschmerz ein bisschen verflüchtigt. Ungereichtigkeit traf mich nach wie vor, auch wenn sie nichts mit mir zu tun hatte, aber ich lernte zu einem gewissen Mass zu akzeptieren, dass die Welt halt einfach so ist. Abgesehen davon, dass ich Kinder zu erziehen hatte, denen ich ja auch nicht beibringen konnte, wegen jedem Missverhältnis das heulende Elend zu kriegen.
Aber wisst ihr was? Jetzt, wo ich langsam aber sicher auf die Fünfzig zugehe, kommt er wieder zurück, dieser verdammte Weltschmerz. Gut, man muss ja auch sagen, dass die Welt grad wirklich zu einem guten Teil ein Ort zum Verzweifeln ist. Aber mich scheissen nicht mal die Trumps und Musks und Putins an. Sondern die ganz normalen Menschen im ganz normalen Alltag. Die, welche im vollgepackten Zug demontrativ ihren Rucksack auf dem Sitz neben sich parken, während eine alte Dame sich verzweifelt versucht, irgendwo festzuhalten. Oder der Typ, der letzthin sein Auto auf meinen offensichtlich reservierten Parkplatz stellt, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass die Mieterin keine Ahnung hat, wo sie nun ihr Auto hinstellen soll. Oder der alte Mann, der vor dem Coop hinfällt, und Dutzende von Menschen laufen gestresst an ihm vorbei, bevor meine Tochter und ich ihm auf die Füsse helfen.
Ich könnte wirklich regelmässig dran verzweifeln, wie gedanken- und achtlos die Menschen durchs Leben und den Alltag gehen. Und nein, es ist nicht nur die Gen Z, die wir gern als so übertrieben ichbezogen abstempeln, sondern Männer und Frauen jeden Alters und jeder Herkunft.
Und jetzt, wo ich mir das von der Seele geschrieben habe, frage ich mich, was wohl aus Toni geworden ist. Ich wünsche ihm so sehr, dass er alles Glück dieser verflucht ungerechten Welt gefunden hat!