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Wissenschaftler trifft Künstler

«Wir können vom Lockdown lernen»

Der Künstler Kerim Seiler und der Wissenschaftler Martin Grosjean lernten sich beim Mobiliar Experiment in Thun BE kennen. Nun treffen sie sich zu einem digitalen Gespräch über Klima, Kunst und Krisen.

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Martin Grosjean, 2020

Martin Grosjean, Direktor des Oeschger Centre for Climate Change Research der Universität Bern, am Mobiliar Direktionsstandort Bern.

Flavio Leone

Auf dem Bildschirm taucht leicht verpixelt ein Gesicht auf. «Hoi, Martin», sagt der Künstler Kerim Seiler, 45, in seinem Zürcher Atelier. Auf dem Monitor winkt ihm der Wissenschaftler Martin Grosjean, 58, aus Bern zu. Die Verbindung steht!

Im Februar suchten Sie in Thun gemeinsam nach Lösungen für eine nachhaltigere Zukunft. Welchen Blickwinkel haben Wissenschaft und Kunst auf den Klimawandel?
Martin Grosjean: Nach mehr als 40 Jahren intensiver weltweiter Forschung von Naturwissenschaftlern, Ökonominnen, Politologinnen und Philosophen wissen wir zwar viel über den Klimawandel, aber nur wenig darüber, wie die Transformation in eine nachhaltige Welt geschehen soll. Das Pariser Abkommen, das die internationale Klimapolitik nach dem Jahr 2015 festhält, war ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Jetzt geht es darum, aus politischen Versprechen Nägel mit Köpfen zu machen.
Kerim Seiler: Ich bin auf diesem Gebiet kein Experte wie Martin. Mit dem Klimawandel beschäftige ich mich vor allem als Privatperson. Der Umwelt zuliebe fahre ich häufiger Zug, fliege weniger. Ich esse wenig Fleisch und wöchentlich nur ein Ei statt drei. Ganz banale Sachen eben. Aber die meisten Leute schaffen nicht mal das.
Grosjean: Ja, es braucht uns alle! Es regt mich auf, wenn ich mitkriege, dass Leute für ein Shopping-Wochenende nach New York fliegen.

Kann die Kunst in der Klimakrise überhaupt etwas bewirken?
Seiler: Es gab in der Vergangenheit diverse Bewegungen, die einen radikalen Einfluss auf die Gesellschaft hatten. Der Dadaismus etwa stellte die Vorstellung, wie wir reden, Musik machen oder schreiben, komplett auf den Kopf. Und heute? Wir sind als Künstler echt gefordert. Wir können Menschen auf eine besondere Weise sowohl emotional wie auch intellektuell ansprechen. Heute reden wir auch von einem Lebensstil, der das Klima bedroht. Und es brauchte erst einen Lockdown, damit alle merken: Plötzlich kann man auf so viel verzichten!

Kerim Seiler, 2020

Der Zürcher Künstler Kerim Seiler in seinem Atelier in Schlieren ZH.

Flavio Leone

Hatte der Lockdown eine Auswirkung auf das Klima?
Grosjean: Viele Leute dachten im April, als keine Flieger mehr aufgestiegen waren, wir hätten die Klimakrise gelöst. Das ist natürlich kompletter Unsinn! Wenn man die Messungen des CO2 in der Atmosphäre anschaut – ich mache das regelmässig –, sehen wir null Auswirkungen des Lockdowns. Wir hätten die Möglichkeit gehabt, einen kleinen Teil der Wirtschaft zu überdenken und neu aufzubauen im Sinne der Nachhaltigkeit. Diese Chance haben wir leider verschlafen und fallen stattdessen in alte Muster zurück.

Was können wir also vom Lockdown lernen?
Grosjean: Das Offensichtliche: Homeoffice! Oft behaupteten Betriebe früher, dass das nicht möglich sei – heute ist das Konzept in vielen Unternehmen etabliert. Wir haben den Wert des Selberkochens oder Gärtnerns wiederentdeckt. Wenn wir diese Entschleunigung beibehalten und weiterentwickeln, können wir aus der Corona-Krise durchaus positive Aspekte ziehen. 

Martin Grosjean, 2020

Wissenschaftler Martin Grosjean: «Wir können vom Lockdown lernen.»

Flavio Leone

Was nehmen Sie persönlich aus dieser Zeit mit?
Seiler: Kunst zu machen, ist für mich wichtiger denn je. Im Dialog bleiben, sich austauschen, bewusst leben. In den letzten neun Jahren warf ich nur etwa zweimal Essensreste weg. Ich hegte die Hoffnung, dass sich durch die Zäsur in unserer Gesellschaft etwas verändert. Aber dafür war der Lockdown nicht radikal genug.
Grosjean: Ich sehe es ähnlich. Selbstverständlich wünsche ich mir, ich hätte mehr Zeit fürs Lesen, nicht nur für die Lektüre von Fachliteratur. Aber auf der anderen Seite fühle ich mich meiner Arbeit verpflichtet. In meinem Beruf ist der Tag nicht um 17 Uhr mit dem Nachhausegehen zu Ende. Und das fägt auch! Lesen kann ich, wenn ich pensioniert bin!
Seiler (lacht): Genau das ist die Kontroverse! Wir wissen, wie wir entschleunigen können. Aber worauf will man wirklich verzichten?

Wie können wir unsere Mitmenschen ermutigen, sich zu engagieren?
Seiler: Gehts um die Klimakrise, ziehen viele Leute nicht am gleichen Strang. Wir müssen aber anfangen, uns gegenseitig zuzuhören.
Grosjean: In der Schweiz sind wir hervorragend ausgebildet. Aber die Menschen handeln wider besseres Wissen. Wir wissen, Fliegen ist nicht gut. Trotzdem machen wir es und suchen nach hunderttausend Gründen, warum wir fliegen müssen. Die Leute zimmern sich ihre eigene Realität.
Seiler: Da fällt mir die Gaia-Hypothese ein. Sie besagt, die Erde sei ein Lebewesen und wir alle Teil davon. Wir sind ein grosses, wunderschönes Ding. Wir müssen demnach wegkommen vom Ich hin zum Wir.
Grosjean: Dem kann ich zustimmen. Den Gaia-Ansatz lernen unsere Studenten bereits im ersten Semester. 

Kerim Seiler, 2020

Künstler Kerim Seiler: «Gehts um die Klimakrise, ziehen viele Leute nicht am gleichen Strang.»

Flavio Leone

Die Klimajugend kämpft an vorderster Front gegen die Klimakrise. Was halten Sie von dieser Bewegung?
Seiler: Super! Dass die den Bundesplatz besetzt haben, fand ich wunderbar! Du, Martin?
Grosjean: Die Forderung der Klimajugend hat die beste heute verfügbare Wissenschaft in ihrem Rücken. Was die Jungen fordern, fordert die Wissenschaft seit Dekaden. Ich werde oft gefragt, ob ich frustriert sei, dass die Klimajugend auf die Strasse geht und sich plötzlich etwas bewegt: Das Parlament wird immer grüner, und das CO2-Gesetz liegt auf dem Tisch. Das alles war nur möglich, weil wir 30 Jahre Vorarbeit geleistet haben. Die Wissenschaft setzte die Politik unter Druck, die Jugend fordert jetzt die Umsetzung. Frustriert bin ich deswegen sicher nicht! Es ist eine perfekte Rollenverteilung.
Seiler: Also Martin, nun kannst du doch zu Hause auf dem Sofa bleiben und lesen (lacht).
Grosjean (lacht): Zuerst warten wir mal das Referendum zum CO2-Gesetz ab.
Seiler: Wie Greta Thunberg diese Bewegung auslöste, gleicht einer Kunst-Performance. 100 Jahre nach dem Dadaismus setzt sich eine junge Frau mit einem Schild hin, und alle nehmen sie ernst. Das ist Kunst, die die ganze Welt verändert. 

Zeit zu handeln

Das ist eine Initiative für nachhaltiges Leben der Schweizer Illustrierten und der Mobiliar.

SD
Silvana DegondaMehr erfahren
Von Silvana Degonda am 23. Oktober 2020 - 13:56 Uhr