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«Die Züglete tut mir einfach wohl im Herz»

Lichterlöschen auf der Alp mit Familie von Grünigen

An der Züglete im Saanenland BE bringen die Sennen ihr Vieh zurück ins Tal – für Familie Grüningen der Höhepunkt im Jahr! Doch bevor es so weit ist, muss Anita die «Wiiber» aufhübschen, und Johann fürchtet um das Leben seiner Guschti.

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Gstaad ist dort, wo der Mann links eine fette Uhr und rechts eine Dame an der Hand hat, wo der Tourist im Restaurant Raclette und Fondue gleichzeitig bestellt und nach zwei Gabeln genug hat, wo sich Menschen in Bildern wiederfinden, die im Kopf schon als Sehnsucht vorhanden waren.

Turbach ist dort, wo der Bauer seiner Frau eine Glocke zum Geburtstag schenkt, wo die Familie vor dem Znacht dem «Papa da obe» dankt, wo die Menschen Weltmeister im Rückwärts-Autofahren sind.

Zwei Dörfer im Berner Saanenland, dicht an dicht gelegen – und doch zwei Welten

Johann und Anita von Grünigen leben in der zweiten Welt: in einem Bauernhaus im Turbachtal. Es ist kurz nach dem Mittag, der Regen peitscht gegen die Fenster, die Luft riecht nach Herbst. Die von Grünigens basteln im leeren Stall Blumenschmuck. Ihre Kühe – reine Simmentaler mit Hörnern! – sind noch auf der Alp Mettlen, auf 1800 Metern, 20 Autominuten von Turbach entfernt.

Ich möchte, dass meine Weiber gut aussehen

Aber nicht mehr lange. Morgen ist Züglete. Dann kehren die Tiere nach drei Monaten auf der Alp ins Tal zurück – und passieren auf ihrem Weg auch die Flaniermeile von Gstaad.

Wer jede Wolke fürchtet, taugt zu einem Bauern nicht

«Ich möchte, dass meine Weiber gut aussehen», sagt Johann, 49, und öffnet seine Wetter-App: «Sie sagen Dauerregen und 15 Grad an – jänu, es ist, wie es ist.» Johann hat die Gstaader Züglete vor drei Jahren mit ins Leben gerufen. Auch zuvor schon sind manche Bauern mit ihren Kühen über die Nobelpromenade gezogen. Aber erst seit 2015 ist der Alpabzug als Dorffest organisiert, mit Jodlerklub, Wurststand und Bier.

Es gehe ihm nicht nur darum, die Reichen zu beeindrucken, sagt Johann. «Mir sind auch die Einheimischen wichtig: Sie sollen sehen, dass es unser Dorf noch gibt!»

Früher habe sich der Bauer mit den Miststiefeln nach Gstaad getraut, heute komme er sich dort fremd vor, die Dorfläden sind Nobelboutiquen gewichen. Johann mag den alten Zeiten nicht nachtrauern, dafür ist er zu pragmatisch. «Aber an Traditionen erinnern, das ist mir wichtig!»

Er greift zum Melkstuhl, legt ihn umgekehrt auf den Tisch, kleidet ihn mit Tannzweigen ein und drapiert Gladiolen drum herum. Anita, 44, fixiert das Gesteck mit einem Kabelbinder. «Noch nicht schön genug, Schnusi», sagt Johann und nestelt an den Gladiolen. Anita zieht die Augenbrauen hoch. «In solchen Momenten möchte ich Papeli am liebsten verkaufen.» Sagts und gibt ihm einen Knuff.

Familie von Grünigen Kopfschmuck-Basteln

«Pass uf, Schnusi!» Johann hilft Anita beim Kopfschmuck-Basteln: ein umgekehrter Melkstuhl, dekoriert mit Gladiolen.

Kurt Reichenbach

Anita und Johann sind eines dieser Paare, die eine Woche zusammen sein könnten oder 20 Jahre, die genügsame Zufriedenheit, die sie ausstrahlen, würde dieselbe sein. 1990 haben sie sich in Turbach kennengelernt. Anita, ein Bauernmädchen aus dem Emmental, hilft Johanns Nachbarn im Sommer auf der Alp. Da muss der Johann immer wieder «gugge», wer da zu Berge geht. Als der Herbstnebel hochkriecht, ist fertig mit «Gugge». Anita kehrt heim. Aber sie kommt im nächsten Sommer wieder – und im Jahr darauf ein drittes Mal.

«Es war ein Kampf, bis ich sie hatte», erinnert sich Johann und kürzt die Stängel der Gladiolen. Letzten Endes sei sie halt einfach seinem «usinnigen» Charme erlegen. «Es wird wohl die Liebe gewesen sein», sagt sie.

Anita wollte schon immer einen Bauern – «aber das darf man ja nicht laut sagen, sonst klappt es nicht». 1993 haben sie und Johann geheiratet, dann kamen die drei Buben: Matthias, 24, Pirmin, 22, und Bruno, 18. Der Älteste und der Jüngste leben noch daheim. Matthias ist Zimmermann und Landwirt, er wird mal den Betrieb übernehmen. Bruno macht in Gstaad eine Lehre als Landschaftsgärtner.

Zusammen an etwas Freude haben, hilft in der Ehe

«Alleine könnten wir diesen Betrieb nicht führen, es braucht die Familie, einen Knecht können wir uns nicht leisten», sagt Anita. Ihre Stimme ist weich, aber resolut, egal ob sie mit den Kühen, den Buben oder dem Mann spricht. «Als einzige Frau muss ich manchmal auf den Tisch hauen», wird sie später sagen.

Eine Kuh macht Muh. Viele Kühe machen Mühe.

Als sich die Dämmerung über das Turbachtal legt, fährt die ganze Familie hoch auf die Obere Mettlen. Die Kühe einstallen, melken, «öppis biisse und undereschlüfe» – so der Plan. Aber es kommt anders.

Kuh Karina hat mitten auf der Weide gekalbert! Johann rennt durch den Regen, hebt das Kälbchen hoch und bringt Kind und Mutter in den Stall. Mit langen Zungenschlägen leckt Karina das feuchte Fell des Kälbchens trocken, aus dem Stallradio schmettert «Me and Bobby McGee» von Janis Joplin. Und plötzlich möchte man am liebsten weinen: weil hier gerade etwas Neues beginnt. Johann schluckt schwer. Es gibt Momente im Leben, die auch in der Wiederholung nichts von ihrem Zauber verlieren.

Johann von Grünigen

Johann bringt Kalb und Mutter Karina in den Stall.

Kurt Reichenbach

«Die Guschti sind verschwunden!», unterbricht Anita die Stille. 5 der 25 Tiere fehlen. Ein Loch im Zaun. «Die können überall sein», seufzt Johann. Er schnappt sich Jeep und Söhne und fährt in die dunkle Kuhbauchnacht, an den Seiten spritzt das Wasser meterhoch.

Johann und seine Kühe, das ist eine langjährige Liebe. Schon als Kind wollte er Bauer werden. «Ich bin nicht der Gescheiteste, aber ich sage immer: Jeder Mensch hat seine Fähigkeiten. Und ich kann gut mit dem Veh umgehen.» Die Freude an den Tieren hat ihn auch nach dem Tod seines Vaters getragen, da war er 23.

«Ich habe für zwei gekrüppelt, mehr, als mir guttat – bis Anita kam.» Anita war nicht nur Johanns erste grosse Liebe, sie war auch seine Rettung. Und sie teilt seine Hingabe für Tiere. «Zusammen an etwas Freude haben, hilft in der Ehe.»

Eine Stunde vor Mitternacht sind die Guschti noch immer unauffindbar. Die von Grünigens gehen schlafen, mit Sorgen im Kopf und Zwetschgenschnaps im Bauch.

Der frühe Vogel fängt den Wurm.

Um 4.15 Uhr klingelt Anitas Handy: «Ich habe sie!» Um drei sei er losgezogen, erzählt Johann am Telefon, ganz oben auf dem Hornberg habe er die Tiere gefunden – dank ihren Glocken, die tief und lang durch die Dämmerung hallen. Zurück auf der Alp, braucht es an diesem Morgen alle Hände: Kühe putzen, Festglocken umhängen, ausstallen.

Die Söhne Matthias und Bruno packen mit an, wie sie ein Leben lang mitangepackt haben. Bauernkinder lernen bauern, ob sie wollen oder nicht. Und sie übernehmen Traditionen: essen wie der Vater Brot mit Mayonnaise, weil sie zu faul sind, die Butter mit dem Messer zu verstreichen. Jodeln. Marschieren bei der Züglete mit.

Die Reichen kannst du nicht mit den Miststiefeln abholen

Machen die Söhne das – speziell die Züglete – auch für ihre Eltern? «Äuä», sagt Matthias, «sonst würde ich kaum mitlaufen.» Die Antwort kommt wie ein Beilschlag. Man getraut sich dann doch noch, nach der Zukunft zu fragen. Ob Matthias, wenn er mal der Chef ist, das Vieh auch nach alter Manier ins Tal treibt? Ob er dafür nicht lieber den Lastwagen nimmt? «Es ist schwierig, Aussagen über die Zukunft zu machen», sagt er.

Nun, dafür lässt sich über die nahe Zukunft berichten: Zwei Stunden dauert der Marsch von der Alp nach Turbach. Da zotteln die Kühe – und man stellt unweigerlich fest: Wäre die Gelassenheit ein Tier, sie wäre eine Kuh. Das mag daran liegen, dass Kühe immer nur eine Sache tun: Wenn sie fressen, dann fressen sie. Wenn sie laufen, dann laufen sie. Sie überlegen sich nicht, was andere über sie denken oder wer die Schönste ist. Das ist bei den von Grünigens anders.

In Turbach angekommen, heisst es: «Hübsch machen!» Als Abschluss der Züglete steht noch der Marsch durch das noble Gstaad an. Anita schlüpft in die Tracht ihrer Schwiegermutter. «Siehst gut aus, Schnusi!», sagt Johann und zupft ihr Mieder zurecht.

Die Männer tragen über dem weissen Hemd eine schwarze, kurzärmlige Samtjacke, den Mutz! Johann putzt sich «öppedie» heraus. Im Winter führt er in Gstaad einen Kutscherbetrieb – «die Reichen kannst du nicht mit den Miststiefeln abholen».

Familie von Grünigen Tracht

Johann, Anita und Bruno (r.) machen sich auf ihrem Hof in Turbach parat für den Auftritt in Gstaad.

Kurt Reichenbach

Du erntest, was du säst.

Nach den Menschen kommen die Tiere dran – Zeit für den aufwendigen Blumenschmuck! Johann ist stolz auf seine Kühe. An Viehausstellungen gewinnen sie immer wieder Preise. Bei der Züglete, sagt Johann, dürften die Kühe aber ruhig «etwas Dreck am Füdli» haben – «authentisch muss es sein»!

Kurz vor zwölf läuft der Tross los, es regnet Bindfäden. Die von Grünigens tragen Pelerinen über der Tracht – noch! Als das legendäre Hotel Gstaad Palace auftaucht, packt die Familie den Regenschutz weg. «Egal, wie stark es schifft», sagt Johann, «durch Gstaad laufen wir in der Tracht, da gibt es keine Birne!»

Da schreiten sie also, vorbei an Louis Vuitton, Gucci und Cartier. Touristen in Daunengilets und mit Sonnenbrille machen Handybilder. Anita ist nass bis auf die Strümpfe, auf Johanns Stirn vermischen sich Schweiss und Regen, aber seine Augen strahlen wie bei einem kleinen Jungen. «Weisch», sagt er, «die Züglete tut mir einfach wohl im Herz.»

Von Michelle Schwarzenbach am 11. September 2017 - 19:30 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 13:14 Uhr