1. Home
  2. News
  3. Sängerin Jennifer Weist: «Sexuelle Übergriffe sind ein Männerproblem»

Erstes Soloalbum «Nackt» erscheint

Sängerin Jennifer Weist: «Sexuelle Übergriffe sind ein Männerproblem»

Jennifer Weist feierte als Frontfrau der Band Jennifer Rostock grosse Erfolge. Nun veröffentlicht die Sängerin ihr erstes Soloalbum «Nackt». Im Interview spricht Weist über sexualisierte Gewalt und traumatische Erlebnisse.

Artikel teilen

Jennifer Weist, ehemalige Frontfrau der Band Jennifer Rostock, veröffentlicht mit "Nackt" ihr erstes Soloalbum.
Jennifer Weist, ehemalige Frontfrau der Band Jennifer Rostock, veröffentlicht mit "Nackt" ihr erstes Soloalbum. Viktor Schanz

Als Frontfrau der Band Jennifer Rostock wurde Jennifer Weist (35) deutschlandweit bekannt. Mit der Teilnahme am Bundesvision Song Contest 2008 machte die fünfköpfige Gruppe erstmals von sich reden. Doch nach zehn Jahren gab die Band 2017 bekannt, eine Pause einzulegen - 2018 standen die Musiker zum letzten Mal gemeinsam auf der Bühne. Nun meldet sich Jennifer Weist mit ihrem ersten Soloprojekt zurück.

Unter dem Künstlernamen Yaenniver veröffentlicht die Stimmgewalt am heutigen Freitag (18. Februar) ihr Album «Nackt». Darauf verarbeitet die 35-Jährige, die auf der Ostseeinsel Usedom gross geworden ist, persönliche Erlebnisse - prangert aber auch gesellschaftliche Strukturen an. «Ich möchte mit meiner Kunst auf Missstände in unserer Gesellschaft aufmerksam machen», erklärt die Interpretin im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news. Zudem spricht Jennifer Weist über sexualisierte Gewalt, die Gefahren von Social Media und warum Frauen in der Musikbranche immer noch unterrepräsentiert sind.

Ihr neues Album trägt den Titel «Nackt». Warum haben Sie sich für diesen Namen entschieden?

Jennifer Weist: Jennifer Rostock war sowohl textlich als auch musikalisch ein Zusammenschluss von uns fünf Musikern. Bei Yaenniver geht es zum ersten Mal nur um mich. Um meine Geschichte, meine Gefühle und um Themen, die mich als private Person bewegen. «Nackt» bedeutet für mich, alle Hüllen fallen zu lassen. Mich schutzlos zu zeigen, aber in erster Linie emotional. Ich singe in meinen Songs über gesellschaftsrelevante Themen wie geschlechterspezifische sexualisierte Gewalt, Legalisierung von Cannabis, polyamore Beziehungen und sexuelle Selbstbestimmung. Ich spreche aber in Songs wie «Seebrücke» oder «Outro» auch über meine Kindheit und einschneidende Erlebnisse, die mich bis heute begleiten. Ich möchte mit meiner Kunst auf Missstände in unserer Gesellschaft aufmerksam machen. Aber die Zuhörer und Zuhörerinnen werden mich auf dem Album «Nackt» auch nochmal von einer anderen, sehr verletzlichen Seite kennenlernen.

«Mädchen Mädchen» ist ein Duett mit Luci van Org. Der Song ist an ihren 90er-Jahre-Hit «Mädchen» angelehnt. Darin sprechen Sie Probleme an, die jede Frau kennt - zum Beispiel von Männern beim Feiern ungefragt angefasst zu werden. Warum glauben Sie, sind sexualisierte Übergriffe immer noch ein Problem?

Weist: Sexualisierte Gewalt, sexuelle Übergriffe oder Belästigungen sind ein Männerproblem, aber bis jetzt tragen ausschliesslich wir Frauen die Konsequenzen dafür. «Mädchen Mädchen» ist ein Aufruf an alle Männer, im Kampf gegen sexualisierte Gewalt endlich an unserer Seite zu stehen. Jede dritte Frau ist von sexualisierter Gewalt betroffen und wir können dieses Problem nur lösen, wenn wir aus den bestehenden patriarchalen Strukturen ausbrechen. Sexualisierte Gewalt ist ein radikales Machtinstrument der Besitzergreifung der Frau durch den Mann und das wird von unserer Gesellschaft nicht sanktioniert, sondern bewusst geschützt. Wenn sich das nicht ändert, wird sich auch nichts an dem Problem selbst ändern.

Sie besingen auf Ihrem Album zudem Themen wie Polyamorie und Cannabis. Inwiefern finden Sie es wichtig, über solche Dinge zu sprechen?

Weist: Wenn ich über Themen wie sexuelle Selbstbestimmung, alternative Beziehungskonzepte und die Legalisierung von Cannabis spreche, werde ich gefragt, warum ich das tue. Künstler und Künstlerinnen, die über monogame Beziehungen, Liebeskummer, Party, Bitches und schnelle Autos sprechen, wird diese Frage leider nie gestellt. Diese Themen spiegeln meine Denkweise und letztendlich auch meine Lebensrealität wider. Ich finde es wichtig darüber zu sprechen, um einen Diskurs in unserer Gesellschaft anzustossen - aber auch um mich als Künstlerin selbst zu verwirklichen.

Der emotionale Song «Seebrücke» handelt von einem besonderen Menschen in Ihrem Leben. Wollen Sie verraten, von wem das Lied handelt und welche Geschichte sich dahinter verbirgt?

Weist: «Seebrücke» ist wohl der persönlichste und emotionalste Song auf meinem Album «Nackt». Ich singe über meine Kindheit in Mecklenburg-Vorpommern und einschneidende Erlebnisse aus dieser Zeit, die mich bis heute begleiten. Der Song ist ein innerer Monolog zwischen mir und meinem jüngeren Ich - der kleinen Jennifer, die ich an der Ostsee zurücklassen musste, um meinen Weg weitergehen zu können. Die kleine Jennifer ist ein Symbol für die Traumata, die ich schon in jungen Jahren erlebt, aber sehr lange versucht habe zu verdrängen - bis sie mich letztendlich doch eingeholt haben. Erst jetzt bin ich, auch durch den Schreibprozess von «Seebrücke», bereit dazu, den ganzen Schmerz der Vergangenheit zuzulassen und ihn als Teil meiner Geschichte anzunehmen.

Sie setzen sich für mehr Gleichberechtigung ein - auch im Musikgeschäft. Warum gibt es Ihrer Meinung nach immer noch weniger erfolgreiche Sängerinnen als Sänger?

Weist: Es gibt nicht nur weniger erfolgreiche Sängerinnen, sondern auch weniger erfolgreiche Autorinnen, Podcasterinnen - die Liste könnte noch ewig so weitergehen. Das muss wohl daran liegen, dass wir Frauen einfach nicht so gut, schlau und lustig sind wie die Männer. Aber mal im Ernst: Männer unterstützen immer noch mehr Männer als Frauen. Sie hören eher männliche Künstler, Podcasts von Männern, lesen Bücher von männlichen Autoren. Das sieht man in vielen Statistiken. Meine Follower bei Instagram sind zu 70 Prozent weiblich. In der Schlussfolgerung habe ich aber nicht mehr weibliche Follower, sondern weniger männliche.

Bei Musikern, Autoren oder Podcastern ist es sehr viel ausgeglichener - sie haben meist zu gleichen Teilen männliche und weibliche Anhänger und Anhängerinnen. Diese Diskrepanz liegt leider an internalisierter Misogynie. An verinnerlichtem Sexismus, den wir alle von Geburt an lernen und erst wieder entlernen müssen - auch wir Frauen. Das geht aber nicht von allein, sondern muss aktiv geschehen, weil unsere Auswahl ein unterbewusster Prozess ist. Wir müssen alle anfangen, bewusst mehr Musik oder Podcasts von Frauen zu hören und mehr Bücher von Autorinnen zu lesen. Nur so kann sich etwas verändern.

Wer seine Meinung sagt, muss unweigerlich mit Gegenwind rechnen. Wie gehen Sie mit negativen Kommentaren um?

Weist: Wenn man sich zu politischen Geschehnissen äussert oder Songs zu gesellschaftsrelevanten Themen rausbringt, muss man immer mit der Kritik anderer Menschen leben. Ich bin selbst ein kritischer Mensch, kann also verstehen, wenn Nachfragen zu Texten, Videos, Interviews oder Posts kommen und beantworte diese auch gerne. Wenn ich in Nachrichten von Menschen, die ich nicht kenne, jedoch beleidigt werde oder sie übergriffig werden, habe ich dafür kein Verständnis. Die Person wird sofort geblockt. Ich habe ausschliesslich Zeit für konstruktive Kritik. Sich diese zu Herzen zu nehmen, gehört für mich aber dazu. Es ist wichtig, dass wir im Austausch miteinander bleiben, um voneinander zu lernen und uns weiterzuentwickeln.

Viele Menschen blicken zu Ihnen auf - sehen Sie sich selbst als Vorbild?

Weist: Früher hätte ich diese Frage sicherlich mit «Nein» beantwortet. Heute sehe ich aber die Verantwortung, die ich als Person des öffentlichen Lebens habe und nehme diese auch gerne an. Allerdings ist es dabei völlig egal, ob ich mich selbst als Vorbild sehe oder nicht. Mit allem, was ich sage und tue, wofür oder wogegen ich mich ausspreche, durch meine Bildungs- und Aufklärungsarbeit, die ich durch meine Songs, aber auch in den sozialen Medien oder durch Interviews leiste, bin ich ganz klar ein Vorbild oder eine Inspiration für andere Menschen.

Sie sind mal mehr, mal weniger auf Instagram aktiv. Inwiefern sehen Sie Gefahren in Social Media?

Weist: Soziale Medien vermitteln uns oftmals eine scheinbar perfekte Welt. Wir legen Weichzeichner und Filter über unsere Gesichter und eigentlich auch über unser ganzes Leben, um mit unseren Lieblingsstars und Influencern mithalten zu können. Wer nicht dem gesellschaftlichen Schönheitsideal entspricht, und das ist bei der Mehrheit von uns so, kann sich schnell hässlich oder ungenügend fühlen. Das kann in schlimmen Fällen zu psychischen Krankheiten führen. Auch ich muss deswegen öfter mal Pausen einlegen und mich auf mein Leben und die Menschen ausserhalb der sozialen Medien konzentrieren.

2022 ist eine Tour geplant. Wie sehr freuen Sie sich darauf, nach all der Zeit wieder Konzerte vor Publikum geben zu können?

Weist: Die Bühne ist ein Zuhause für mich. Singen, Tanzen, Entertainen - das ist nicht nur ein Job, sondern meine Berufung. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als auf Tour zu sein! In diesen Stunden auf der Bühne fühle ich mich absolut frei und glücklich und ich hoffe, ich kann meinen Besuchern und Besucherinnen dieses Gefühl auch vermitteln.

Gibt es Songs, die Sie gar nicht mehr live spielen wollen?

Weist: Ich liebe alle Songs, die ich bisher gemacht habe - ausnahmslos. Wenn ich Songs nicht live spiele, dann weil ich es aus emotionalen Gründen nicht kann. Wenn mich Songs selbst so berühren, dass ich weinen muss, wenn ich mich nicht von dem Gefühl der Trauer oder der Wut distanzieren kann, ist es leider nicht möglich, den Song live zu spielen. Auf der «Nackt auf Tour» steht deshalb «Seebrücke» nicht auf meiner Setliste.

2018 waren Sie Teil der «X-Factor»-Jury. Welche TV-Show würde Sie noch reizen?

Weist: Eigentlich alle TV-Shows, die etwas mit Musik zu tun haben. «Sing meinen Song», «Voice of Germany» oder «The Masked Singer» könnte ich mir sehr gut vorstellen.

Von spot on news AG am 18. Februar 2022 - 15:16 Uhr