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Wechselbad der Gefühle

Mit Jolanda Neff an der Tour de Suisse Women

Mountainbike-Olympiasiegerin Jolanda Neff beweist an der Tour de Suisse Women, dass sie auch auf der Strasse zur den Besten gehört. Zwei Tage unterwegs mit der Ostschweizerin zwischen Konzentration, Höchstleistung und Euphorie.

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Jolanda Neff, Velofahrerin

Jolanda Neff – neu mit braunen statt blonden Locken – gönnt sich nach der strengen Tour- Etappe eine Abkühlung im Rhein in Zizers GR.

Kurt Reichenbach
Sarah van Berkel

Montagabend. Es riecht nach brutzeln den Burgern und nassem Gras am Rande des Churer Fürstenwalds. Die rund 200 Fans sind wegen eines heftigen Platzregens unter die Zelte geflüchtet. Nun schützen sie diese wieder vor der brennenden Sonne.

Dann erreicht das Feld der Velofahrerinnen nach der dritten Etappe der Tour de Suisse Women in horrendem Tempo das Ziel. Alles geht blitzschnell, das Peloton rast unter dem Zielbogen hindurch – und ungebremst weiter den Hügel hinunter. Einige Fans rennen hinterher. Andere warten im Ziel auf ein Selfie mit den Stars – und Journalisten auf Interviews. Vergebens.

Jolanda Neff, Velofahrerin

Selbst kurz vor dem Start der letzten Etappe noch entspannt und gut gelaunt: Neff mit Kollegin Sina Frei (l.).

Kurt Reichenbach

Radprofi und Publikumsliebling Jolanda Neff und ihre Kolleginnen des Schweizer Nationalteams sitzen bereits wieder im Sattel. Ihr Tag ist nach 124 Velokilometern und 1423 Höhenmetern in feuchtheissem Klima – bei welchem andere schon schwitzen, wenn sie nur rumliegen – nicht zu Ende. Sie pedalen zum Ausfahren ins Hotel in Zizers GR. Nach der Etappe ist vor der Etappe.

Jolanda Neffs Velotrikot ist nun ihrem Bikini gewichen. Ihre Beine sind noch immer schwer. Neff steigt vorsichtig die steinige Schlucht in unmittelbarer Nähe der Unterkunft hinunter. Hier setzt sie sich ins kühle Rheinwas ser, um die Müdigkeit aus dem Körper zu schwemmen. «Das tut richtig gut nach einem solchen Tag.»

Jolanda Neff, Velofahrerin

«Es ist schön, jemanden dabeizuhaben, der einen so gut kennt», sagt Jolanda Neff über ihre Cousine und Physiotherapeutin Josiane Neff.

Kurt Reichenbach

Die Tour de Suisse der Frauen wird nach 2021 heuer erst zum zweiten Mal aus getragen. Um an die Tradition und Popularität der Männertour heranzukommen, braucht es also Zeit. Immerhin: Dieses Jahr wurde die Frauentour von zwei auf vier Teilstücke erweitert. Vertreten ist die Schweiz mit dem Nationalteam und dem Regionalteam BeCycling. Auffällig: Nach dem Out von Strassenprofi Marlen Reusser wegen einer CovidInfektion besteht die Elite Equipe ausschliesslich aus Mountainbikerinnen. Neben Jolanda Neff, 29, sind das Sina Frei, 24, Linda Indergand, 28, Alessandra Keller, 26, Ronja Blöchlinger, 21, und Nicole Koller, 25.

Die Konkurrentinnen, die sonst auf den Trails dieser Welt gegeneinander um die Medaillen kämpfen, ziehen auf den heimischen Strassen am gleichen Strang. «Wir kennen uns fast alle schon seit mehr als zehn Jahren. Es war bereichernd, uns gegenseitig zu helfen, zusammen zu kämpfen und gemeinsam etwas zu erreichen», sagt Neff.

«Es war bereichernd, uns gegenseitig zu helfen und zusammen zu kämpfen» JOLANDA NEFF

Jolanda Neff, Velofahrerin

Das Race Meal mit Reis und Saucen dient vor allem als Mittel zum Zweck.

Kurt Reichenbach

Die Tour de Suisse hat für sie auch emotionalen Stellenwert. «Ich weiss noch, wie das Männerrennen jeweils an unserem Schulhaus vorbeifuhr und wir stets rausdurften, um zu fanen.» Nun jubeln ihr etliche Schulklassen, Freunde und Verwandte oder Mitglieder ihres Veloklubs vom Streckenrand zu. «Es war megaschön, diese Unterstützung zu spüren.»

Dienstagmorgen. Die vierte und letzte Etappe von Chur nach Lantsch steht bevor. Das Rennen beginnt erst nach mittags, mit Ausschlafen wird allerdings nichts. Der Morgen ist komplett durchgetaktet. «Ich habe nicht mal ein Buch dabei, weil ich eh nicht zum Lesen käme», sagt Neff. Nach dem Frühstück muss sie zum Interviewter min für ein italienisches Veloportal. Da nach heisst es bereits wieder: essen. Als Race Meal, so wird die Mahlzeit unmittelbar vor einem Rennen bezeichnet, stehen Schüsseln mit Reis, Tomaten sowie Pestosauce und Reibkäse bereit.

Jolanda Neff, Velofahrerin

Die Erholung – hier mit einem Bad im Rhein in Zizers GR – gehört genauso zur Leistung wie das Training.

Kurt Reichenbach

Im Team herrscht eine konzentrierte Stimmung in der Rennvorbereitung, aber keine Hektik. Weil jeder genau weiss, was er oder sie zu tun hat. Neben Nationaltrainer Edi Telser, 47, kümmern sich zwei Physiotherapeutinnen und zwei Medienbetreuer um die Athletinnen, zwei Mechaniker um deren Rennmaschinen. Diese Hilfe des Staff ist für die Fahrerinnen ein grosser Komfort, im Gegensatz zur eher zweck mässigen Unterkunft. «Wir nehmen den Sportlerinnen möglichst alles ab, damit sie sich voll auf ihren Job, das Velofahren, konzentrieren können», sagt Physiotherapeutin Josiane Neff, 29, die auf der Tour auch mal 18 bis 20-Stunden-Tage hat und Jolanda nicht zufällig ähnlich sieht: Die beiden sind Cousinen.

Es folgt die Teamsitzung. An dieser besprechen Trainer und Sportlerinnen die Taktik für den Tag – dies der grosse Unterschied zu den Mountainbike-Rennen: «Es ist eine riesige Umstellung. In Strassenrennen musst du die anderen Fahrerinnen und deren Stärken und Schwächen genau kennen. Im Biken musst du einfach von Anfang bis Ende Vollgas geben.»

 

«Ich habe nicht mal ein Buch dabei, weil ich eh nicht zum Lesen käme» JOLANDA NEFF

Jolanda Neff, Velofahrerin

Der TV bleibt aus. Auf dem Weg zum Rennstart konzentrieren sich Neff und Co. im Teambus, bevor der Rummel losgeht.

Kurt Reichenbach

Jolanda Neff hat längst bewiesen, dass sie das kann. Mit dem Olympiasieg im Cross Country im Sommer 2021 in Tokio krönte sie ihre Karriere. Und jetzt auf der Strasse überrascht sie sich als GesamtFünfte auch selber. Die Tour war für sie «ein MegaErlebnis», habe aber nichts mit fehlender Motivation im Biken zu tun. Vielmehr sei die Tour zusätzlich ein gutes Training für ihre Kerndisziplin. Nun fokussiert sie wieder aufs Biken – es stehen weitere Weltcups und dann EM und WM an.

Sieben Minuten bis zum Start der letz ten Etappe. Die Fahrerinnen sind in der Altstadt Chur versammelt. Neff sitzt lässig auf der Stange ihres Rads und unterhält sich mit Fans, die ihr von hinter der Absperrung zurufen. Dann steht sie auf und läuft in Richtung der mobilen WCs am Streckenrand, wo andere Schlange stehen. Neff hat Glück, sie darf im Gebäude der Stadtpolizei die Toilette benutzen. Vielleicht das Privileg einer Olympiasiegerin.

Jolanda Neff, Velofahrerin

«Luca versteht und unterstützt mich. Trotzdem ist er nicht nur Fan, sondern auch Kritiker.» Neff über Freund Luca Shaw, der sie auf dem Velo im Ziel überrascht.

Kurt Reichenbach

Im Rennen sieht es lange sehr gut aus für Neff. Erst im Aufstieg von Tiefencastel wenige Kilometer vor dem Ziel wird sie von der späteren Siegerin abgehängt und vom Feld ein geholt. In der Roland Arena regnet es in Strömen, als Neff als Zehnte über die Ziellinie fährt. Sie verzieht vor Erschöpfung das Gesicht und lässt sich ins Gras fallen. Nach kurzem Durchschnaufen erhellt sich ihre Miene allerdings wieder: Ihr Freund Luca Shaw, 25, ein amerikanischer Downhill-Profi, ist überraschend ge kommen. Wie könnte es anders sein: auf zwei Rädern.

Text: Sarah van Berkel am 24. Juni 2022 - 15:02 Uhr