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  4. Wie die Wales-Fans nach jahrzehntelangem Leiden erlöst wurden

Vor dem EM-Spiel Schweiz gegen Wales

«Schickt mich nie nach Hause!»

«Don’t take me home!»: Das Lied der Waliser Fussballfans war der Sound der Fussball-EM 2016. In Frankreich beendete Wales fast 60 Jahre seines Leidens am Fussball. Diesmal wird auch die Schweiz Teil der Party. Eine Reportage.

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Wales Fans Nationalmannschaft, Fussball, Jubel im Spiel gegen England, SI SPORT 02/2021

Begeisterung und Hingabe: Zehntausende Wales-Fans feiern ihr Team im Stade Bollaert-Delelis in Lens gegen den Rivalen England – allerdings vor der Niederlage in der Nachspielzeit.

Reinaldo Coddou H.

Flank den verdammten Ball nicht rein, Christopher! «Don’t cross that fucking ball, Christopher!» Der Trainer von Wales ruft den Satz fünf Minuten vor Spielende von der Aussenlinie, es ist 2016, im französischen Lille, und Wales liegt im EM-Viertelfinal sensationell mit 2:1 gegen den absoluten Favoriten Belgien in Führung. Der Ball läuft auf die rechte Seite zu Chris Gunter. Er nimmt ihn an, zehn Meter von der Eckfahne entfernt, und schaut hoch. Sein Trainer und alle Fans lesen seine Gedanken, sie erschrecken: Er wird doch wohl nicht ... flanken?

In diesem Moment der Anspannung nennt der Coach ihn nicht beim Rufnamen Chris, er ruft wie ein Vater, der zornig ermahnt: «Christopher!» Denn eigentlich ist klar, was Aussenverteidiger Gunter zu tun hat. Sein Team ist der Underdog in diesem Spiel; es gilt, die Führung irgendwie über die Zeit zu retten. Also den Ball schnappen, zur Eckfahne rennen, ihn da halten, vielleicht gefoult werden, vielleicht selbst foulen. Ganz egal, nur Zeit gewinnen. Keinen Konter mehr fangen. Doch Gunter flankt tatsächlich.

Dylan Llewelyn, ein Hardcore-Fan seit Jahrzehnten

Vielleicht dreissig Meter entfernt steht Dylan Llewelyn auf der Tribüne. Ein Mann in seinen Fünfzigern, leidgeprüfter Fan der walisischen Nationalelf. Das schreibt sich so einfach, aber bei Llewelyn stimmt es wirklich. In den Neunzigerjahren war er mit Wales überall in Europa, überall sah er Klatschen. Beim Spiel in Österreich 1992 standen neben ihm ganze zehn andere Fans. Sie bewegten sich im Fussball ziemlich nahe am Abgrund.

Nun, an diesem Julitag 2016, ist Llewelyns Team nicht nur bei einem Turnier dabei, sondern steht kurz vor dem Halbfinal. Er wird später erzählen, wie sich sein 15 Jahre alter Sohn an ihn klammert, als Wales gegen Belgien die Führung verteidigt. Von dessen Mutter lebt Llewelyn getrennt, oft sieht er seinen Sohn nicht. Ein gewöhnlicher Teenager ist er, antwortet nie mit mehr als zwei Worten, zeigt keine Emotionen. Doch in diesem Sommer ist für den Waliser nichts mehr gewöhnlich.

Wales Fans Nationalmannschaft, Fussball, 3-1 von Sam Vokes gegen Belgien, SI SPORT 02/2021

Explosion der Freude: Die Waliser Fussballer rund um Superstar Gareth Bale (2. v. l.) feiern in Lille den Sensationssieg gegen Belgien. Oben: Torschütze Sam Vokes, rechts neben Bale der Flankengeber Chris Gunter.

Getty Images

Gunter flankt den Ball in die Mitte, und der eingewechselte Sam Vokes köpft ihn eiskalt ins Tor. 3:1. Wales steht im Halbfinal, die kleinste Nation, der das je gelungen ist. Auf der einen Seite geht Belgien mit Stars wie Lukaku, De Bruyne, Hazard in die Knie. Auf der anderen feiert Wales. Gunter spielt sonst für den englischen No-Name-Klub Reading, Vokes für Burnley. Hal Robson-Kanu, der Schütze zum 2:1, ist sogar vereinslos.

Sie rennen sich gegenseitig fast über den Haufen, Gunter zeigt auf den Fanblock, bevor seine Kollegen auf ihn springen. Und in diesem Fanblock, zwischen Menschen, die übermannt vom Glück apathisch starren, und anderen, die ekstatisch durch die Reihen purzeln, hält Dylan Llewelyn seinen Sohn in den Armen. «Er zitterte und weinte. Und auch ich war aufgelöst. Dieser Moment entschädigte für 40 Jahre Enttäuschungen. Es war doch Irrsinn. Wir schlagen Belgien. Wales steht im Halbfinal. Wales!»

Stets zuverlässig in letzter Minute an der Qualifikation gescheitert

Doch: War es wirklich so ein Irrsinn? Schliesslich spielte mit Gareth Bale einer der teuersten Spieler der Geschichte für Wales, zudem mit Aaron Ramsey und Joe Allen zwei Kicker von internationalem Format. Um alles besser zu erklären, reicht ein Fischerhut. Vor dem Turnier hatten die Fans einen solchen in Grün, Gelb und Rot drucken lassen, den Farben des WM-Trikots 1958, dem letzten Turnier mit walisischer Beteiligung. In den folgenden 58 Jahren hatte die kleine britische Halbinsel zuverlässig grosse Spieler hervorgebracht wie Goalie Neville Southall oder die Man-United-Legende Ryan Giggs. Doch genauso zuverlässig war es stets in letzter Minute an der Qualifikation gescheitert.

Im August 2011 rangierte Wales auf Platz 117 der Weltrangliste, hinter Guatemala und Haiti. «We never qualify», sangen die Anhänger in einer besonderen Mischung aus Selbstironie und Selbstkasteiung. Sie rätselten: Ist dieses Land, in dem eigentlich Rugby die Sportart Nummer eins ist, einfach nicht für die grossen Spiele gemacht? Englische Fans, die besser gestellten Nachbarn, wurden von den walisischen Malaisen zum Spott angeregt, kulminierend in dem derben Verweis auf ihre Ländlichkeit und eine mehr als amouröse Beziehung zu Schafen: Sheep-shagging bastards – you know what you are!

Wales Fans Nationalmannschaft, Fussball, SI SPORT 02/2021

Der Drache speit wieder Feuer: In Lans versahen Fans das Waliser Wappentier mit einer Erinnerung an die Zeit des Wartens.

Reinaldo Coddou H.

Doch es war nicht nur die wenig erbauliche Historie, die auf den Schultern dieser Fussballnation lastete. Da war auch eine Tragödie, die jeden Spieler, Trainer oder Fan beinahe erdrückte. In der Nacht zum 27. November 2011 hatte sich Gary Speed das Leben genommen. Speed war nicht nur einer der populärsten Fussballer des Landes, sondern zu diesem Zeitpunkt auch Nationaltrainer. Bis heute sind die Hintergründe der Tat ungeklärt. Am Abend vor seinem Tod war er noch Teil einer Fussball-Talkrunde im Fernsehen. Die Spieler standen unter Schock.

Aaron Ramsey gab ein Jahr später die Kapitänsbinde ab, weil er nicht über den Verlust seines Trainers hinweggekommen war. In der Rückschau erzählten viele, wie sinn- und bedeutungslos es ihnen nun erschien, auf den Fussballplatz zu trotten. Auch Chris Coleman, enger Freund und zugleich Nachfolger von Speed als Trainer des Nationalteams, machte bei seiner Vorstellung keinen Hehl aus seinem Befinden: «Es war immer ein Traum, Trainer von Wales zu sein, aber im Moment fühlt es sich nicht richtig an.» Wales verpasste die Qualifikation zur WM 2014 sang- und klanglos.

Hochdekorierte Ausnahmespieler, frei von Allüren

Die Waliser brauchten lange, bis sie in die Balance zurückfanden. Zunächst fehlte ihnen der Wille, sich ob der Umstände in ein banal erscheinendes Spiel hineinzusteigern. Auf dem Platz wollten sie mit aller Macht die Tragik und die Pleiten vergessen machen. Beides misslang. Ihr Trainer gestand ein, zunächst zu zurückhaltend und dann zu fordernd mit seinen Jungs umgegangen zu sein. Doch als er während der Qualifikation für die EM 2016 den Mittelweg fand, versammelte sich gleichzeitig ein perfekt harmonierendes Team um ihn.

Hochdekorierte Ausnahmespieler wie Gareth Bale gliederten sich frei von Allüren ins Team ein, grätschten und liefen wie Nachwuchskräfte. Bales Identifikation mit dem Nationalteam geht so weit, dass ihm von ehemaligen Real-Madrid-Spielern nachgesagt wurde, für ihn zähle zuerst Wales, dann Golf und erst an dritter Stelle sein Verein. Die walisischen Fans machten daraus natürlich ein Banner (und einen Song): «Wales. Golf. Madrid. In that order.»

Wales Fans Nationalmannschaft, Fussball, Elter Gary Speed, Trainer Chris Coleman, SI SPORT 02/2021

Dunkle Stunden: Drei Monate nach dem Suizid von Nationalcoach Gary Speed 2011 trauern dessen Eltern Roger und Carol sowie Nachfolger Chris Coleman (v. l.) am Rande eines Länderspiels in Cardiff.

Getty Images

Hinter Bale ackerten Leute wie Chris Gunter, die auch Sensibilität für die Ränge hatten. Es gab eine Szene nach dem zweiten EM-Vorrundenspiel gegen England, das Wales in allerletzter Minute mit 1:2 verlor. Der grosse Nachbar hatte also doch wieder triumphiert, auf der Tribüne sackten die walisischen Fans zusammen. Gunter lief nach Abpfiff zum Fanblock und drückte seine Handkante gegen das Kinn. Chin up! Kopf hoch. Die Fans erhoben sich, einige ballten die Fäuste, während ihnen die Tränen der Wut in den Augen standen.

«Wales! Wales! Wales!», hallte es Gunter hinterher, während er in die Kabine trottete, um seine Kollegen aufzubauen. Herz und Lunge von Wales. Durch die Gunters dieser Welt können die Bales erst strahlen. «Chris war wie ein Fan, der es auf den Rasen geschafft hatte», erzählt Jonny Owen, der die EM-Doku «Don’t take me home» gedreht hatte. «Chris sagte zu mir, wenn er nicht gespielt hätte, wäre er genau dort oben gestanden – im Fanblock. Das fasst diesen ganzen Sommer wunderbar zusammen. Team und Fans waren eins.»

«Watch out Europe, we're on our way back»

Wer in Frankreich im Sommer 2016 eine Bar, ein Stadion oder ein Hostel betrat, traf zwangsläufig auf Waliser. Überall torkelte ein freudestrahlender Mensch mit einem grün-rot-gelben Fischerhut herum. «Don’t take me home», sangen sie in Toulouse vor dem entscheidenden Gruppenspiel gegen Russland. Vor dem Pub «Melting Pot» versammelten sich Tausende in der Mittagssonne, immer wieder kletterten einige Fans auf das Dach, um von dort einen Abschlag mit einem Gummiball in die Menge zu wagen. Unten hämmerte ein Fan mit bemaltem Oberkörper auf eine Mülltonne. Die Umstehenden nahmen den Takt ab und brüllten: «Watch out Europe, we’re on our way back.» Mittendrin erinnerte ein grosses Banner an den verstorbenen Gary Speed. Als die Sonne unterging, pilgerten zahllose Fischerhüte aus der Altstadt über die Flussbrücke zum kleinen Stadion.

An diesem milden Sommertag gewann Wales das Spiel bereits vor dem Anpfiff. Das rote Meer im Block brodelte betörend laut bei der Hymne, dass selbst die russische Seite gegenüber andächtig lauschte. Die Mannschaft überrannte den Gegner, am Ende hiess es 3:0. Gunter rannte in einer Szene an der Trainerbank vorbei und rief: «Enjoy this, gaffer!» Trainer, geniess es. Die Waliser schoben sich mit diesem Sieg auf den ersten Platz, vorbei an England. Die Fans sangen selbstironisch an die Adresse des Nachbarn: «Sheep-shagging bastards, we know what we are!»

Wales Fans Nationalmannschaft, Fussball, Jubel in den Strassen von Paris, SI SPORT 02/2021

Gemeinsam gegen den Rivalen: In Paris verbrüdern sich 2016 die Fans von Wales mit jenen von Nordirland gegen die Engländer.

Getty Images

Dylan Llewelyn machte sich daran, die weitere Route zu planen. Denn wie viele andere Fans hatte er damit gerechnet, nur drei Spiele seines Teams zu sehen. Er reiste zurück in ein Dorf namens Pwllheli, sein Sohn musste Schulprüfungen bestehen, er selbst zur Arbeit. Nur um dann wieder möglichst günstig nach Frankreich aufzubrechen. Die walisischen Fans pendelten zwischen zwei Welten. Während sie den Sommer ihres Lebens in und mit Europa feierten, stimmte ihre Heimat für den Austritt aus der EU.

«Ich wachte morgens um fünf am Liverpooler Flughafen auf und sah die Nachrichten», erzählt Llewelyn. «Ich konnte es nicht glauben. Meine Freunde waren auch alle fassungslos. Hätte man die Abstimmung unter walisischen Fussballfans durchgeführt, wäre es nie zum Brexit gekommen.» Durch die vielen Reisen hätten sie Vorurteile und Angst vor Fremden abgebaut. 

 

Sogar die Hochzeit des eigenen Bruders verpasst

Sie sollten noch länger bei der Euro bleiben, im Achtelfinal besiegte Wales die Nordiren mit 1:0 und im Viertelfinal nach Gunters verdammtem Ball die Belgier. Ein Waliser hatte seinen Wagen in einem Kurzzeitparkplatz am Flughafen Birmingham abgestellt und nahm die über tausend Euro Parkgebühr einfach in Kauf. Rechtsverteidiger Chris Gunter verpasste die Hochzeit seines Bruders, bei der er Trauzeuge sein sollte. Und kommentierte seine Absenz mit der ihm eigenen Trockenheit: «Am Donnerstag ist seine Hochzeit, am Sonntag der Final – vielleicht ist er bis dahin ja schon wieder geschieden.»

Wales Fans Nationalmannschaft, Fussball, Chris Gunter, SI SPORT 02/2021

«Chin up!» – Kopf hoch! Nach der Niederlage gegen das verhasste England muntert Chris Gunter die Waliser Fans mit seiner Geste auf.

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In puncto Aufopferung für das walisische Nationalteam reicht wohl keiner an Mark Ainsbury heran. Vor dem Halbfinal in Lyon wurde er von den Fans in der Stadt gefeiert. Der bärtige Endvierziger hatte seit drei Jahrzehnten kein Spiel verpasst, auch wenn er dafür ins Gefängnis musste. Im Jahr 1994 war er kurz nach der Unabhängigkeit Moldawiens als einer der ersten Fans mit dem Zug aus Rumänien eingereist.

«Wir kamen über Nacht und hatten keine Visa. Als wir sagten, dass wir zum Fussballspiel wollten, hielten sie uns für Spione. Wir kamen zwei Tage ins Gefängnis. Ich habe beinahe unseren Tod bewirkt, weil ich einen der Soldaten im Schach besiegte.» Ainsbury war dem Team von einem Ende Europas zum anderen gefolgt. Auf die Frage, welches Land das seltsamste sei, das er auf seinen Reisen gesehen hatte, antwortete er ohne zu zögern: «England.»

Von Ron Ulrich am 12. Juni 2021 - 08:00 Uhr