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Golf 2019

Duell um den Olymp

Wer ist der grösste Golfer, den die Welt bisher gesehen hat? Ist es Tiger Woods mit seinem Comeback-Wunder und der Statistik – oder bleibt Jack Nicklaus selbst dann an der Spitze, wenn Woods weiter gewinnen sollte? Eine Annäherung an die Frage um die ewige Nummer 1.

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Tiger Woods vs. Jack Nicklaus
Corbis via Getty Images

Der Sommer an der englischen Küste hat schon immer Kapriolen bereitgehalten. Mal ist er zu verregnet und drückt mit den tief hängenden Wolken auf die Stimmung. Mal ist er so trocken und heiss, dass selbst die anspruchsvollsten und exklusivsten Golfplätze aussehen, als hätte sie niemand gepflegt. 

Also wie im Juli 1996, als sich die besten Spieler der Welt im altehrwürdigen Royal Lytham & St. Anne’s Golf Club in der Grafschaft Lancashire einfinden. Die Fairways sind ausgedörrt und hart geworden und lassen flach fliegende Bälle unkontrolliert ausrollen. Die Grüns konnten aus Sorge vor Abnutzung nicht so kurz gemäht werden wie üblich, was einen ungewollten Effekt hat: Sie sind langsam. Zu allem Überfluss hat sich die starke Brise von der Irischen See verkrochen. Das 125. British Open produziert auf diese Weise einen Turniersieger, an den sich kaum jemand erinnert: den Amerikaner Tom Lehman, der stoisch seine Runden abspult.

Kein Wunder, dass sich die Golfwelt an diesem Wochenende mit sehr viel Aufmerksamkeit einem anderen Spieler zuwendet. Er ist zwar als amtierender amerikanischer Amateurmeister nicht zum Geldverdienen angereist. Trotzdem landet er in einem Feld der grossen Namen auf einem beachtlichen 22. Platz. Auf dem Weg dahin hat er am zweiten Tag eine denkwürdige 66er-Runde erzielt und ein Gefühl für die Herausforderungen des Platzes entwickelt. «Irgendetwas klickte», verrät Tiger Woods neugierigen Journalisten, die wissen wollen, wie das vielgepriesene Wunderkind die Erfahrung verarbeitet hat. «Es war, als ob ich einen neuen Spielstil gefunden hätte. Seitdem kommt mir alles viel leichter vor.» 

In Lancashire unterhält er sich mit einigen älteren Spielern darüber, ob es für ihn nicht an der Zeit sei, das Studium abzubrechen, aus dem brotlosen Amateurdasein auszubrechen und Berufsspieler zu werden. Der Links-Kurs an der englischen Nordwestküste hat ihm gezeigt, dass Geduld ein guter Partner ist und es sich lohnt, nicht mehr jeden Schlag mit dem aggressiven Vorsatz anzugehen, die Fahne zu attackieren. Es ist ihm schwergefallen. Aber es gibt keine Alternative, um bei den Profis Woche um Woche um den Sieg zu spielen. «Es liegt nicht in der Natur eines 20-Jährigen», gibt er zu. «Ich musste es tatsächlich lernen.»

Jack Nicklaus gives a few pointers to Tiger Woods

Tipps von der Legende: Tiger Woods (r.) hört genau zu, was ihm Jack Nicklaus bei einer Trainingsrunde an den US. Open 1996 in Bloomfield Hills, Michigan, zu erzählen hat.

Getty Images

«Dieser Junge ist der technisch solideste Spieler, den ich bisher gesehen habe – egal in welcher Altersgruppe»

Jack Nicklaus über Woods

Einer von den Älteren, die schon damals wohlwollend die Fortschritte des Ausnahmetalents registrieren, ist Nick Price aus Simbabwe, der in seiner Laufbahn zweimal das British Open und einmal die PGA-Championship gewonnen hatte. «Er hat alles. Die Grundlagen sind da. Er läuft mit einem ziemlich reifen Kopf auf den Schultern herum. Und seine Präsenz strahlt aus.» Am meisten aber fällt ins Gewicht, was Jack Nicklaus erklärt, der bis zu diesem Zeitpunkt unumstritten als der beste Spieler der Geschichte gilt. Ihm genügt ein Blick, um dem Nachwuchsspieler ein Golfdiplom summa cum laude auszuhändigen: «Dieser Junge ist der technisch solideste Spieler, den ich bisher gesehen habe – egal in welcher Altersgruppe.»

Falls man Woods damals die Komplimente der Altvorderen hinterbracht hat, muss ihn das auf jeden Fall sehr beruhigt haben. Denn schon als kleiner Junge vergleicht er sich nur mit den ganz Grossen der Zunft und heckt den Plan aus, in deren Fussstapfen zu treten. Er heftet deshalb in seinem Zimmer im Haus seiner Eltern in Kalifornien ein Blatt Papier an die Wand und hält darauf alle bedeutenden Erfolge fest, die er als Teenager erringt – darunter den dreimaligen Gewinn der amerikanischen Junioren-Meisterschaft in der Gruppe der Spieler unter 18. Der Sinn der Übung: Den Fortschritt seiner Entwicklung mit niemand anderem als der von Jack Nicklaus vergleichen. Denn er belegt aufgrund seiner Erfolge, darunter allein achtzehn Siege in den vier Majors (sechs Erfolge beim Masters, vier beim US Open, drei beim British Open und fünf bei der PGA Championship), einen Platz ganz oben im Olymp der Besten. Und der deshalb bis heute, lange nach dem Ende seiner Karriere, als der Massstab gilt, an dem sich Woods messen lassen muss.

Jack Nicklaus Enters Butler Cabin At The 1986 Masters Tournament

Jack Nicklaus betritt 1986 die Butler Cabin am Masters – mit 79 Jahren auf dem Papier immer noch der erfolgreichste Golfer der Geschichte. Er scheut sich aber nicht, in den höchsten Tönen von Woods zu schwärmen.

Augusta National/Getty Images
Casual portrait of Tiger Woods

Tiger Woods entspannt 1996 am Hauptsitz von Nike. Früh ein vielgepriesenes Wunderkind, Rekorde-Hamsterer – aber eben auch skandalträchtig neben dem Golfplatz. Tiger Woods, 43, verzückt und entsetzt die Golffans gleichermassen.

Sports Illustrated/Getty Images
From Left To Right: Arnold Palmer, Tiger Woods, Tom Watson, Gary Player, Jack Nicklaus, Nick Faldo And Mark O'Meara During The 2002 Masters Tournament

2002: am Masters, v. l.: Arnold Palmer, Tiger Woods, Tom Watson, Gary Player, Jack Nicklaus und Nick Faldo

Augusta National/Getty Images

Nicklaus – «the golden bear» – ist inzwischen 79 Jahre alt und auch deshalb weltberühmt, weil er rund um den Globus mehr als 400 Golfplätze entworfen hat. Er gehörte schon immer zu den generösen Charakteren in einem Zirkus voller Individualisten mit Tunnelblick. Weshalb er bereits ein Jahr später – als Tiger Woods bei seinem ersten Masters nach seinem Wechsel zu den Profis die Konkurrenz der Älteren in Grund und Boden spielt und das Turnier mit einem gigantischen Rekord-Vorsprung von zwölf Schlägen auf den zweitplatzierten Landsmann Tom Kite gewinnt – zu den Ersten gehört, die dessen Sonderstatus erläutern. «Es ist eine Schande, dass Bobbie Jones nicht hier ist», sagt er mit einem Hinweis auf einen der berühmtesten amerikanischen Golfspieler der Vergangenheit, der den schwierigen Platz des Augusta National Golf Club mitentworfen hatte. «Er hätte sich die Sätze aufsparen können, die er mir 1963 gewidmet hat. Denn dieser junge Mann spielt ein Spiel, mit dem keiner von uns vertraut ist. Er reduziert diesen Golfplatz auf ein Nichts.»

Seit jenen Jahren jagt Woods den Bestmarken von Nicklaus hinterher, um so irgendwann tatsächlich den Anspruch erheben zu können, ein noch besserer Golfspieler zu sein. Anfänglich schien es nicht den geringsten Zweifel zu geben, dass ihm das gelingen würde. Denn kein noch so begabter Golfprofi seiner Generation ist damals in der Lage, ihn zu bremsen. Im Gegenteil. Anders als Nicklaus, der in seiner besten Zeit gegen Giganten wie Arnold Palmer, Gary Player und Tom Watson antreten und ihnen oft genug den Vortritt lassen musste, scheinen die Gegner von Woods eingeschüchtert, sobald sie in seine Aura treten. Und sie strahlen einen erstaunlichen Mangel an Selbstbewusstsein aus. Der Höhepunkt: Die Phase zwischen 2000 und 2002, als Woods sechs von zwölf Majors gewinnt und mit dem sogenannten Tiger-Slam aufwartet, einer bei den US Open 2000 begonnenen Perlenkette aus vier Majors-Erfolgen nacheinander.

Mit zunehmendem Alter kommt Woods allerdings das Leben dazwischen. Die Liste seiner Verletzungen und medizinischen Eingriffe etwa, die die amerikanische Nachrichtenagentur einmal en dé-tail zusammenstellt, ist ellenlang. Sie verrät, welche Körperteile irgendwann betroffen waren: die Knochen und Bänder im linken Bein, beide Achillessehnen mehrfach und die Lendenwirbelsäule, die viermal operiert wird, darunter zuletzt im Rahmen einer Wirbelverblockung, die ihn komplett von den starken Schmerzen in diesem Bereich befreit.

Nicklaus bleibt von einer solchen Barrage an Problemen weitgehend verschont und steigt nur zweimal in seiner Karriere bei Turnieren aus gesundheitlichen Gründen aus. «Wir erleiden alle irgendwann Verletzungen», sagte er vor ein paar Jahren am Rande des Masters. «Aber du hältst das aus.» Was unausgesprochen bleibt: Jemand wie Woods, ein Typ, der jeden Tag in den Fitnessraum geht und sich die Muskulatur eines Bodybuilders erarbeitet hat, malträtierte in seiner beharrlichen Ambition ganz offensichtlich seine Physis so sehr, dass sie der Belastung nicht standhalten konnte.

Portrait of Jack Nicklaus

2014: Jack Nicklaus in den Büroräumlichkeiten seiner Firma Nicklaus Companies, die über 400 Golfplätze designt hat.

Sports Illustrated/Getty Images
JACK NICKLAUS

21. Januar 1940 

Major-Titel: 18
The Masters: 6x (1963, 1965, 1966, 1972, 1975, 1986)
US Open: 4x (1962, 1967, 1972, 1980)
British Open: 3x (1966, 1970, 1978)
PGA Championship: 5x (1963, 1971, 1973, 1975, 1980) 

Statistik:
Profi-Turniersiege: 115
PGA Tour: 73, andere: 21, Champions Tour: 12, Ryder Cup: 6x (5 Siege)
Karriere-Preisgeld: 5 734 031 US-Dollar
Gespielte Events/überstandene Cuts: 584/495 (84,8%)
Nummer 1 der Weltrangliste: 1986 bis 1977 (inoffizielles Welt-Golfranking)

Trotzdem könnte der wiedererstarkte Woods in den nächsten Jahren theoretisch Jack Nicklaus vom ersten Platz der Majors-Sieger verdrängen. Mit seinem Erfolg im April beim Masters schraubt er seine Bestmarke auf fünfzehn und liegt damit nur noch drei hinter dem Grandseigneur. Der erinnert die Menschen daran, dass er schon immer überzeugt gewesen sei, dass Woods wenigstens ein weiteres Major gewinnen könne. «Und der Grund, weshalb ich das gesagt habe, ist Tigers Gesundheit. Wenn er gesund ist, muss er sich keine Gedanken über seine Abschläge machen, die sowieso noch nie kerzengerade waren. Er ist ein grossartiger Putter und hat ein derart gutes kurzes Spiel und schlägt sehr präzis mit den Eisen. Niemand hat jemals einen Ball derart im Griff gehabt.»

Doch bei allem Respekt für den Jüngeren und sein Können – welchen der beiden man für den besten Golfer der Geschichte hält, hängt nicht nur von solchen Facetten ab. Und nicht von der Statistik, auch wenn sie gerade in Amerika immer wieder als scheinbar objektivste Messlatte herangezogen wird. 

Hier deshalb die wichtigsten Eckpunkte für einen unmittelbaren Vergleich von Nicklaus und Woods, die deutlich machen sollen, auf welcher Seite man bei einer kritischen Betrachtung so gut wie immer landet (selbst wenn Woods in diesem Sommer noch einmal die Konkurrenz bezwingen sollte).

Wie oft belegte Nicklaus den zweiten Platz bei einem Major? 19 Mal. Wie oft gelang dies Woods? 6 Mal.

Gegen welche Spieler musste sich Nicklaus durchsetzen? Gary Player (neun Majors), Tom Watson (acht), Arnold Palmer (sieben), Lee Trevino (sechs) und Seve Ballesteros (fünf). Was kann man über die Qualität der Konkurrenz von Woods sagen? Phil Mickelson gewann fünf Majors, Ernie Els und Rory McIlroy deren vier.

Was gehörte zu den auffälligsten Qualitäten, die Nicklaus besass? Er war in der Lage, selbst dann wichtige Turniere zu gewinnen (darunter acht Majors), wenn er sich auf den drei Runden zuvor in eine vergleichsweise schwierige Ausgangslage gebracht hatte. Wie errang Woods fast alle seiner Siege? Von der Poleposition aus, von der er sonntags in die letzte Runde ging. Echte psychologische Power sieht anders aus.

Darüber hinaus sollte man nicht ignorieren, dass die Persönlichkeit eines Menschen auch abseits vom Golfplatz ein Faktor für die Beurteilung seines Stellenwerts in der Geschichte der Sportart ist. Zwar entfesselte Woods eine ungestillte Faszination der Massen und sorgte für steigende Einschaltquoten bei den Live-Übertragungen und im weiteren für ein beachtliches Anwachsen der Preisgelder, von dem alle Spieler profitierten. Auf der anderen Seite überschattet nicht nur seine Sexsucht seine Karriere. Als er 2017 nachts von der Polizei am Strassenrand schlafend in seinem Auto gefunden wird, macht anschliessend das erkennungsdienstliche Foto weltweit die Runde. Es zeigt ihn mit mit geschwollenen Augen und einem weggetretenen Blick, er starrt ins Nichts.

Von Jack Nicklaus gibt es solche Geschichten nicht. Und solche Bilder schon gar nicht. 

Tiger Woods reacts as he wins the Masters golf tournament Sunday

Am 14. April 2019 ist es so weit: Woods gewinnt mit dem Masters in Augusta sein erstes Major-Turnier seit fast elf Jahren. Nun steht er bei 15 Major-Siegen.

AP

«Ob Jack wegen seines Rekords besorgt ist? Ich glaube, er streckt zu Hause in West Palm Beach gemütlich die Füsse aus»

Tiger Woods über Nicklaus
TIGER WOODS

30. Dezember 1975 

Major-Titel: 15
The Masters: 5x (1997, 2001, 2002, 2005, 2019)
US Open: 3x (2000, 2002, 2008)
British Open: 3x (2000, 2005, 2006)
PGA Championship: 4x (1999, 2000, 2006, 2007)

Statistik
Profi-Turniersiege: 108
PGA: 81, andere: 25, Ryder Cup: 8x (1 Sieg)
Karriere-Preisgeld: 118 309 570 US-Dollar
Gespielte Events/überstandene Cuts: 352/322 (91,5%)
Nummer 1 der Weltrangliste: 683 Wochen, längste Zeit am Stück: 281

Von Jürgen Kalwa am 7. Juni 2019 - 06:00 Uhr