Manchmal trügt eine imposante körperliche Erscheinung über das wahre Mass an Selbstvertrauen hinweg. Gerade ist der letzte Ton aus Ramon Zenhäuserns Klarinette und der Mundharmonika von Grosspapa Edmund, 84, verklungen, da gibt es Lob von den «Üsserschwiizern». «Schöne Version von ‹Amazing Grace›», stellt das Reporterteam der «Schweizer Illustrierten» fest. «Oh, ihr habt das Lied erkannt?», entgegnet der 26-jährige Olympiaheld fast etwas verlegen, «ich dachte, wir hättens mit zu vielen falschen Tönen verhauen.»
Familienbande Zenhäusern
Nur nicht so bescheiden, Ramon! Wie Enkel und Grossvater da im Garten vor dem Chalet Märli in Bürchen oberhalb von Visp VS zusammen musizieren, lässt nicht erahnen, dass sie fast nur noch zu Weihnachten ihre Blasinstrumente auspacken, um die Familienfeier zu begleiten. Die Melodien gleiten so geschmeidig die Tonleiter entlang wie Zenhäusern im Winter um die Slalomstangen. Melodiöse Einfädler gibts wenige: «Zwei-, dreimal habe ich den Ton etwas länger gehalten, bis auch Opa den richtigen getroffen hat.»
Das Duo harmoniert – nicht nur beim Musizieren. Stolz zeigt Ramon die Baumhütte im Wäldchen, leicht erhöht hinter dem Chalet Märli, die der Grossvater und Ramons Vater Peter Zenhäusern, 57, einst für Klein Ramon gebaut haben. «Mein Kindheits-Spielparadies» nennt es Ramon. «Darin verbrachte ich Stunden, davor habe ich Schneemänner und Iglus gebaut oder Mini-Bobbahnen zum Chalet hinunter. Und Opa war mein bester Freund.» Mama Bea Zenhäusern, 53, erinnert sich an die Kindertage Ramons: «Er wollte selten in Ruhe mit Autöli spielen oder Büchlein anschauen. Immer musste er in Bewegung sein, am liebsten im Freien. Diesen Bub musste man stets eher bremsen als aktivieren.»
Wo alles seinen Anfang nahm
Das Chalet Märli prägt Zenhäuserns Jugend. Zwar wohnt die Familie in einer Wohnung in Visp, doch im Bergdorf Bürchen, auf 1360 Metern über Meer, besitzt sie in unmittelbarer Nachbarschaft der Grosseltern ein Wochenendhaus, in dem sie einen Grossteil des Winter-Halbjahres verbringt. «Hier oben wurzelt meine Faszination für den Skisport», sagt Ramon. Am Bürchener Kinderlift stellt Papa Peter, selbst aktiver Skisportler und Jugendtrainer, seinen Bub erstmals auf die Bretter, als der 18 Monate alt ist. Später trainiert er mit ihm im Moosalp-Skigebiet auf eigens für Ramon präparierten Pisten.
Damals glauben die wenigsten, dass sich das irgendwann auszahlen wird. Zu gross, zu gschtabig für einen gelenkigen Skikünstler, lautet die allgemeine Einschätzung Ramons. «Einst hat sogar zur Debatte gestanden, sein von klein auf überdurchschnittliches Wachstum medikamentös zu bremsen», erinnert sich Mama Bea. «Aber ein Kinderarzt meinte, Ramon könnte einer werden wie der lange Tennisspieler Marc Rosset. Weshalb also ins Wachstum eingreifen?»
Papa Peter und später der einstige Weltcup-Fahrer und Nachwuchs-Trainer Didier Plaschy, 45, bleiben unbeirrt, was Ramons Potenzial zwischen den Slalomstangen betrifft. «Ich war überzeugt, dass er seine Statur mit den enormen Hebeln gerade im Slalom zu seinen Gunsten nutzen kann», sagt Plaschy. Die Klarinette des Marschmusik-Jugend-Schweizer-Meisters bleibt fortan mehrheitlich stumm zugunsten des Skitrainings.
Ein «birnenweicher» Erfolg
Wohin das führt, zeigt der Winter 2017/18: ein erster Weltcup-Rennsieg, Olympia-Silber im Slalom und Gold im Teamwettbewerb. Ramon Zenhäusern ist der neue Star des Schweizer Männer-Skisports, Weltklasse und Publikumsliebling. Sein herzerfrischendes «Das ist einfach birnenweich!», mit dem er in Pyeongchang einem österreichischen TV-Reporter seinen Begeisterungsruf «Biruweich!» erklären will, wird legendär.
Nun gibt es eine Zenhäusern-Statue am Ortseingang von Visp, eine «Pizza Ramon» im Restaurant Dorbia in Bürchen, einen Ramon-Zenhäusern-Skilift und das «Kafi Biräweich» im Bergrestaurant Moosalp. «Manchmal wurde mir diesen Sommer nach dem Olympiaerfolg alles fast zu viel», sagt Ramon. Auch weil er extrem pflichtbewusst ist und nur schlecht Nein sagen kann. «Er ist so lieb, wie er gross ist», stellt Mama Bea fest. Ihr Sohn ist einer, dem es furchtbar unangenehm ist, wenn er an einem Konzert das Gefühl hat, er verbaue jemandem mit seiner Länge die Bühnensicht. «En zimlich liebe Siech» nennt er sich selbst.
Sorgenkind Kopfsponsor
Vielleicht wird ihm gerade diese «Pflegeleichtigkeit» anderweitig zum Nachteil. Bis kurz vor der Saison fehlte Zenhäusern nämlich ein Kopfsponsor, die wichtigste Einnahmequelle für einen Profi-Skifahrer. Mittlerweile, unmittelbar vor Saisonstart, hat er einen gefunden. Dies, nachdem sich gefragt wurde: Ob sich Querköpfe wohl besser vermarkten lassen? Papa Peter, Teamleiter Präfektur des Kollegiums Internat Brig und Sportreporter bei Radio Rottu, der sich um die Managementbelange seines Sohnes kümmert, haderte: «Wir reden von einem Betrag ab etwa 110 000 Franken – für einen Olympiasieger! Ich weiss nicht, woran es fehlt.» Ramon beschäftigte das Sponsorenmanko ebenfalls: «Ich bin zwar nicht im Stolz gekränkt, aber langsam frage ich mich schon, was ich falsch mache.»
Nichts, bleib wie du bist!, möchte man Zenhäusern zurufen, diesem ruhigen, offenen und freundlichen Zwei-Meter-Riesen, der seit diesem Sommer wieder Single ist. Umso mehr, als er sein Wirtschafts-Fernstudium nebenher vorantreibt. Seit November hat er aber auch das unter Dach und Fach gebracht, als er seine Bachelor-Arbeit zum Thema «Einfluss der IOC-Agenda auf die Vergabe von Olympischen Winterspielen» nachreichte. Auch deshalb – und nicht nur des für ihn besonders unbequemen Fluges in der Economy-Klasse wegen – hat er sein Sommertraining in Saas-Fee statt mit dem Team in Neuseeland absolviert. «Das lässt sich machen, weil ich hier ebenfalls vorzügliche Trainingsbedingungen habe.»
Ein bescheidener Kerl
Bis zum Start in den Weltcup-Winter hat er möglichst viel Zeit mit seinen Lieben im Wallis genossen, spielte, wenns ging, mal ein Tennismatch mit Schwester Romaine, 24.
Er, einst hoffnungsvoller Nachwuchsspieler, sie die letzte Schweizerin, die eine gewisse Belinda Bencic bezwungen hat, aber inzwischen Wirtschaft studiert. Und Ramons Ziele für die Saison? «Ich will den letzten Winter bestätigen. Und weil ich da die Nummer sechs der Slalom-Weltrangliste war, müsste jetzt schon Rang fünf drinliegen …» Ist sie da wieder, die Sache mit dem Selbstvertrauen? Ach was! Der Mann hat einfach Humor!