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«Ich brenne für die Kunst. Sie gibt mir alles.»

Tullio Zanovello: Meister der Mythen

Apokalypse auf dem Gotthard! Mit seiner vollautomatischen Bildmaschine lässt Tullio Zanovello die Festung erzittern. Das 1,5-Tonnen-Kunstwerk steht in einem 300 Meter langen Stollen. Ein teuflisches Unterfangen.

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Tullio Zanovello Gotthard

Atelier: Zanovello bemalt die Flügeltüren seiner Bildmaschinen mit Geschichten aus der Fantasie.

Geri Born

Tullio Zanovello drückt den Startknopf. Quellwasser tropft von der Decke. Leiser Chorgesang erklingt. Der Altar aus Stein, der tief im Innern des Gotthards in einem 300 Meter langen Stollen steht, öffnet wie von Zauberhand seine Flügel. Immer neue Bildtafeln sorgen für Staunen. Die Besucher tauchen ein in die Geschichte der Urschweiz: Bauarbeiter sprengen den Tunnel frei.

Soldaten bieten Partisanen während des Krieges Schutz. Die Gesichter der Menschen sind dramatisch aufgeladen. In der Mitte des Triptychons hockt ein haariges Wesen. Grimmig umklammert es einen Felsblock.

Sehen Sie im Video mehr zu Tullio Zanovellos Kunstwerk «Das Reduit»

Das Gotthardmassiv ist ein Gebirge voller Mythen, Geheimnisse und Legenden. Viele Kulturen treffen im Grenzgebiet aufeinander. Und doch hat hier niemand das Sagen. Ausser der Teufel, der den Urnern half, eine Brücke zu bauen – zum Preis einer lebendigen Seele. Diese dachten, sie wären schlauer, und speisten ihn mit einem Ziegenbock ab. Der Stein, den er aus Wut auf Urner Boden schleuderte, ist heute noch zu bewundern. 

«Die Geschichte um Glauben und Verrat faszinierte mich schon als Kind», sagt Tullio Zanovello, 55. In seiner sieben Meter breiten und 4,5 Meter hohen Bildmaschine spinnt er die Geschichte weiter.

Tullio Zanovello Gotthard

100 Meter Kabel, 12 Motoren: Tullio Zanovellos Bildmaschine lässt Musik erklingen und steht im Herzen des Gotthards.

Geri Born

«Während der Montage musste ich einen Skianzug tragen»

«Reduit» heisst das Kunstwerk. Es besteht aus 300 Kilogramm Steinfurnier, 100 Meter Kabel, 30 Lichtern und 12 Motoren. Bis 14. Oktober lässt es die Festung Sasso San Gottardo erzittern. Die Vorführung dauert 24 Minuten. Danach gibt es eine sechs Minuten lange Pause, damit die komplexe Anlage nicht heissläuft im eisigen Bunker.

Tullio Zanovello Gotthard

Störfaktoren: Kälte und Feuchtigkeit machen den Arbeitern im Sasso San Gottardo zu schaffen.

Geri Born

«Während der Montage musste ich einen Skianzug tragen», sagt der Tüftler aus Zürich. Die historische Festung zwischen Airolo und Andermatt ist wie geschaffen als Ausstellungsort seiner zehnten Bildmaschine. Der Sohn italienischer Einwanderer hat die Geschichte der Eidgenossenschaft mit seiner eigenen verwoben. «Nach dem Krieg erlebten meine Eltern die Schweiz als traumatisiertes Land. Mit meinem Vater fuhr ich oft über den Gotthard zu Verwandten nach Italien. Schon damals fand ich die Gegend faszinierend, aber auch rau und angsteinflössend.»

Drei Jahre tüftelte Tullio Zanovello

Das ehemals hochgeheime Reduit aus dem Zweiten Weltkrieg ist seit 2002 fürs Publikum zugänglich. Noch heute hat man in den weitverzweigten unterirdischen Gängen das Gefühl, als kehrte das Militär jeden Moment von seiner Mission zurück. Es gab Massenlager, Lazarette und so gar eine Zahnarztpraxis. Heute beherbergt die Festung eine Cafeteria, das Kristallmuseum, eine Konzertgrotte und Gewölbe für Wechselausstellungen.

Tullio Zanovello Gotthard

Aufbau: Das 1,5 Tonnen schwere Kunstwerk wird im Gotthard-Reduit wieder zusammengeschraubt.

Geri Born

Mit seinem wachen Blick erinnert Tullio Zanovello eher an einen Mittelschullehrer als an einen Schwerarbeiter. Drei Jahre tüftelte er am 1,5 Tonnen schweren Kunstwerk, das er mit Schiefer verkleidet hat. Sogar die Orchestermusik komponierte der Tausendsassa selbst. Die Aufnahme für die Bildmaschine im Gotthard stammt von der Zürcher Sing-Akademie, dem Partnerchor des Tonhalle-Orchesters Zürich und des Berner Kammerorchesters. Dirigiert hat Florian Helgath.

Derweil bewegen sich die elf Tafelbilder immer dynamischer und dramatischer. Eine feuerwerksähnliche Lichtshow lässt das Schlussbild erleuchten. Zwei Figuren aus der Schweizer Geschichte sind zu erkennen. Hat die Helvetia nicht zwei Gesichter? Tatsächlich: Aus ihrem Rücken quillt Stroh, und sie trägt Gämshörner. Im Schlussakt verwandelt sie sich ins Sennentuntschi aus der Alpensage. Ist der letzte Ton verhallt, umhüllt Dunkelheit die Zuschauer. Das Spektakel beginnt von vorne.

«Meine Existenz war bedroht»

Die Gemälde im Grossformat entstanden im Zürcher Atelier. Auch dieses gleicht einer Art Reduit. Es liegt unter der Erde des Wohnhauses, das Zanovello eigenhändig baute. Mit seinen Bilderbotschaften will er keine Glaubenssätze verbreiten. «Mich interessieren die Unsicherheiten und Brüche menschlichen Lebens: den Widerstreit zwischen Tradition und Moderne, Leben und Tod, Individuum und Gesellschaft, Anspruch und Wirklichkeit.»

2007 hatte der Vater zweier Töchter selber eine Sinnkrise. Ausstellungen floppten. «Meine Existenz war bedroht.» Vier Jahre bunkerte er sich ein, bereitete einen Neuanfang vor. «Ohne die Unterstützung meiner Frau, mit der ich 28 Jahre verheiratet bin, wäre ich gescheitert.»

Tullio Zanovello Gotthard

Kreativ: 2007 hatte der Künstler eine Sinnkrise. Seither gehts wieder aufwärts. Grosse Aufträge warten!

Geri Born

Silvia Zanovello ist Lektorin beim Diogenes Verlag. Sie hielt ihrem Mann auch finanziell den Rücken frei. Heute ist sie stolz auf seine Weltneuheit: «Die Bildmaschinen sind visionär, ehrlich, berührend. Ein Fest für die Sinne!»

Tullio Zanovello Gotthard

Teamplayer: Silvia und Tullio Zanovello beim Zitronen-Tennis in der Küche ihres Hauses, das der Handwerker selber gebaut hat.

Geri Born

Dieser Meinung ist auch Christoph Vitali. «Ich habe noch nie so etwas gesehen. Und das will etwas heissen», schwärmt der ehemalige Direktor der Fondation Beyeler. Auch Initiant und Auftraggeber Alfred Markwalder von der Fondazione Sasso San Gottardo ist stolz. Museumsdirektor Damian Zingg: «Die Poesie des Kunstwerks begeistert.»

«Ich brenne für die Kunst. Sie gibt mir alles.»

2500 Stunden Arbeit hat der Künstler in den letzten drei Jahren in sein Werk gesteckt. Zusammengebaut wurde es in einer Montagehalle in Schlieren ZH. «Für den Transport auf den Gotthardpass musste ich die Bildmaschine in ihre Einzelteile zerlegen. Mir kamen fast die Tränen. Ich lief tagelang ganz verstört durch die Gegend. Bis ich begriff, dass ich meine Kunst loslassen muss, um sie wachsen zu sehen.»

Nervös sei er gewesen beim Wiederaufbau. Auch die Vorpremiere am 30. Juni stockte, als sich die dritte Flügeltür nicht automatisch öffnen liess. «Ich dachte, mir bleibt das Herz stehen. Da hatte sicher der Teufel seine Finger mit im Spiel.» Stunden später an der Vernissage funktionierte alles einwandfrei. Im Publikum sassen Politgrössen wie Filippo Lombardi und Ex-Bundesratskandidat Norman Gobbi.

Tullio Zanovello Gotthard

Komponist: Auch die Opern-Partituren für die Bildmaschinen schrieb der Maler und Musiker selber.

Geri Born

Steht Tullio Zanovello im Atelier vor der riesigen Staffelei, wird er zu einem anderen Menschen. «Ich brenne für die Kunst. Sie gibt mir alles.» Er malt wie im Rausch, bannt Szenen auf Holzplatten, die von Liebe und Hass erzählen. Sein schonungsloser Blick hinter die Fassaden menschlicher Abgründe ist oft schwer verdaulich. Immer wieder geht er an Grenzen – manchmal sogar darüber hinaus. Seine Heiterkeit ist dann wie weggeknipst: «Zu viel Fröhlichkeit ertrage ich nicht.»

Von Caroline Micaela Hauger am 8. Juli 2018 - 18:00 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 12:16 Uhr