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Zu Hause bei Rollstuhl-Youtuber Jahn Graf

«Menschen mit Behinderung sollen sich zeigen»

Der Zuger Jahn Graf ist seit seiner Geburt im Rollstuhl. Mit 25 Jahren wollte er sich nicht mehr hinter Institutionen verstecken und hat seinen eigenen Youtube-Kanal «Jahns rollende Welt» gegründet. Seine Videos sollen andere Menschen mit Behinderung motivieren, selbstbestimmt aufzutreten.

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Jahn Graf Rollstuhl-Youtuber SI Homestory vom 28.02.2018

Vor zwei Jahren hat Jahn Graf einen eigenen Youtube-Kanal eröffnet.

Alexandra Pauli

Ein Wintermorgen mitten in Luzern. In der Altstadt herrscht Gedränge. Skurrile Gestalten mit Masken ziehen durch die Gassen, Kinder werfen Konfetti auf den Boden. Die Guggenmusik «Latärndlihöcker Lozärn» begleitet den Umzug. Videoaufnahmen halten den Fasnachtsauftakt am Schmutzigen Donnerstag fest. Die Perspektive ist die eines Kindes. Doch die Optik täuscht.

Kameramann ist der Rollstuhlfahrer Jahn Graf, 27. Auf seinem Youtube-Kanal «Jahns rollende Welt» will er mit Filmaufnahmen wie diesen den Fussgängern seine «Füdliperspektive» näher bringen. Im Influencer-Zeitalter finden seine Videos immer mehr Beachtung: Graf durfte sogar schon Gast bei «Aeschbacher» sein.

«Zuerst dachten die Ärzte, ich sei einfach ein faules Kleinkind»

Der Chamer ist seit seiner Geburt zerebral gelähmt und auf den Rollstuhl angewiesen. «Zuerst dachten die Ärzte, ich sei einfach ein faules Kleinkind», sagt Graf. Bis heute weiss er nicht, was für seine Behinderung verantwortlich ist. Trotz verschiedenster Abklärungen konnten die Mediziner die Ursache nicht eruieren. «Ich habe irgendwann aufgehört nach dem Warum zu fragen, weil es mich nicht weiterbringt. Ich bin faktisch behindert und das nehme ich so an.»

Jahn Graf Rollstuhl-Youtuber SI Shooting vom 08.03.2018

Bei Spazierfahrten am Zugersee hat Jahn Graf Zeit zum Nachdenken.

Alexandra Pauli

Vom Kindergarten an geht Graf in Sonderschulen. Den grössten Teil seiner Schulzeit verbringt er an der Stiftung Rodtegg in Luzern. In der geschützten Umgebung absolviert Graf eine Ausbildung im Bürobereich und später eine Anlehre zum Buchhalter. Doch das betreute Leben in Institutionen ist nichts für ihn. «Ich will selbstbestimmt leben und arbeiten.»

Sein Weg führt ihn weg von der Institution

Aus dieser Unzufriedenheit heraus entscheidet der Rollstuhlfahrer, die Institution zu verlassen. Pro Infirmis, die grösste Fachorganisation für behinderte Menschen in der Schweiz, stellt ihm einen Jobcoach zur Seite. Ein Treuhandbüro im Kanton Zug stellt Graf an. So arbeitet er etwas mehr als zwei Jahre vor sich hin. Im Jahr 2015 schlägt das Schicksal zu.

Eine Notoperation rüttelt ihn wach

Seine Niere platzt, er wird mit einer Blutvergiftung in den Notfall eingeliefert. Die Operation glückt, Graf darf das Spital nach einem Monat verlassen. Aus dem Tief heraus findet er Zeit, um nachzudenken. «Das Leben hat mir eine zweite Chance geschenkt», ist Graf überzeugt. «Von diesem Moment an wollte ich nur noch etwas machen, was die Gesellschaft weiterbringt.»

Jahn Graf Rollstuhl-Youtuber SI Homestory vom 28.02.2018

Jahn Graf braucht keine Spitex. Kochen kann er selbst, putzen hilft seine Mutter.

Alexandra Pauli

Die Kündigung macht den Weg frei für die Zukunft

Nach einem Gespräch mit seinem Vorgesetzten wird Graf gekündigt. «Ich war meinem Chef nicht gross böse, weil ich im Berufswechsel einen neuen Weg für mich sah.» Sein Ziel: Die Öffentlichkeitsarbeit.

Tagelang schreibt der Rollstuhlfahrer Bewerbungen. Überall lehnen sie ihn ab. Mehr und mehr wird Graf bewusst: «Ich will mein eigenes Business aufbauen.» In den sozialen Medien findet er die Lösung. «Das Influencertum hat mich fasziniert. Online gehen, das ist der Schlüssel zur Zukunft», sagt Graf.

Jahn Graf Rollstuhl-Youtuber SI Homestory vom 28.02.2018

Sein Wohnzimmer ist auch sein Fernsehstudio. Seine Interviewgäste filmt Jahn Graf mit dieser Kamera.

Alexandra Pauli

Von der Filmkritik zur «Füdliperspektive»

Voller Tatendrang und neuer Lebensfreude eröffnet er am 5. Februar 2016 seinen eigenen Youtube-Kanal. Als Kinofan versucht er zuerst, mit Filmkritiken eine Community aufzubauen. Schnell merkt er, die Konkurrenz ist zu gross. Doch eines seiner Videos über einen Film zum Thema Beeinträchtigung stösst auf grossen Anklang: Aufgrund dessen entscheidet er sich im November 2016, das Konzept zu ändern und den Kanal auf «Jahns rollende Welt» umzubenennen.

«Wir sind nicht nur die Herzigen und die Armen»

Mit seinen Videos will er Menschen für das Thema Beeinträchtigung sensibilisieren und Betroffene zu mehr Eigeninitiative motivieren. «Ich will zeigen, dass wir nicht nur die Herzigen und die Armen sind. Das SRF hat mit Sendungen wie ‹Üsi Badi › oder ‹Üse Buurehof › zu diesem Gesellschaftsbild beigetragen», sagt Graf. Dafür lässt der Rollstuhl-Youtuber in seinen Videos Betroffene Klartext reden: «Mein Kanal soll Menschen mit Behinderungen dazu bringen, sich nicht hinter Institutionen zu verstecken, sondern sich öffentlich zu zeigen.»

Jahn Graf Rollstuhl-Youtuber SI Shooting vom 08.03.2018

Jahn Graf ist viel in der Stadt unterwegs.

Alexandra Pauli

Die GoPro ist sein wichtigstes Arbeitsinstrument

Solche Aufnahmen wie an der Luzerner Fasnacht filmt Graf jeweils mit der GoPro, die er an seinem Rollstuhl befestigt. Die Interviews zeichnet er mit einer Kamera und Stativ in seiner Wohnung in Cham auf. Sein erster Interviewgast war seine Mutter im Februar 2017.

Seine Eltern finden sein Youtuber-Dasein toll

«Mein Sohn braucht das Gegenüber und interessiert sich sehr für andere Menschen. Es war für mich von Beginn an klar, dass ich ihn bei seinem Youtube-Kanal unterstütze», sagt seine Mutter Christina Graf, 53. «Jahn macht mich mit seiner Arbeit stolz», lobt Vater Bruno Graf, 62. Sein Sohn sei bewandert in Sport und Politik. Die Familie diskutiert viel in Grafs Wohnung in Cham, im Elternhaus in Baar, aber auch im Café Plaza in Zug.

Jahn Graf Rollstuhl-Youtuber SI Shooting vom 08.03.2018

Sie halten zusammen: Rollstuhl-Youtuber Jahn (M.) mit seinen Eltern Bruno und Christina Graf.

Alexandra Pauli

Jahn und der Besitzer kennen sich seit Jahren. «Er ist ein sehr lustiger und angenehmer Gast», sagt Café-Inhaber Jonny Azizi, 32, über den Rollstuhlfahrer. Bei schlechtem Wetter nimmt der Youtuber den Zug in die Stadt, bei schönem Wetter fährt er mit seinem Rollstuhl am Zugersee entlang.

Jahn Graf Rollstuhl-Youtuber SI Shooting vom 08.03.2018

Gute Gespräche: Jahn Graf und sein Kollege Sadmir Mujanovic unterhalten sich mit Plaza-Inhaber Jonny Azizi (l.) über Sport und Politik.

Alexandra Pauli

«Ich lebe von der Invalidenrente»

Mit 185 Abonnenten wirft «Jahns rollende Welt» noch kein Geld ab. «Ich lebe von der Invalidenrente», erklärt Graf. Das reiche zum Leben. Dennoch will er in Zukunft, sein eigenes Geld verdienen. «Die ältere Generation sieht meine Arbeit nicht als Beruf. Für manche Menschen bin ich ein Schmarotzer.» Graf selber sieht es als richtige Arbeit: «Heute tickt alles digital. Das Influencertum ist ein lukratives Business.»

Bis sein Kanal rentiert, ist es noch ein weiter Weg. «Damit Youtube Werbung schaltet, brauche ich mindestens 1000 Abonnenten», erklärt Graf. Seine Eltern und seine 20-jährige Schwester, die in Baar ZG wohnen, unterstützen ihn bei seiner Arbeit. Ein Kollege erstellt für ihn die Video-Grafiken. Schneiden kann Graf mittlerweile selber.

Jahn Graf Rollstuhl-Youtuber SI Homestory vom 28.02.2018

Für ein Youtube-Video benötigt Jahn Graf durchschnittlich drei Arbeitstage. Er arbeitet zumeist nur zwei bis drei Stunden am Stück.

Alexandra Pauli

«Ich hätte gerne wieder eine Freundin»

In seinem Schlafzimmer steht ein Doppelbett. Das teilt er aktuell mit niemandem. «Ich hätte gerne wieder eine Freundin». Seine letzte Beziehung ging nach wenigen Monaten in die Brüche. «Sie war Fussgängerin und fünf Jahre älter als ich.»

Bei seiner zukünftigen Liebsten sind ihm vor allem zwei Dinge wichtig: «Sie sollte älter sein als ich und darf nicht zu meiner Krankenschwester werden.» Neben diesem privaten Wunsch hat Graf auch einen für seine berufliche Zukunft: «Ich träume davon, eine eigene TV-Sendung zu haben. Ich will vor einem grossen Publikum mit Menschen in den Dialog treten.»

Von Sarah Huber am 2. April 2018 - 19:00 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 12:41 Uhr