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Wie geht’s dir heute?

Einsamkeit ist so gesundheitsschädigend wie rauchen

Nur Verlierer*innen fühlen sich einsam, so die gängige Meinung. Dabei kennen alle das Gefühl der Einsamkeit. Ein Drittel der Menschen in der Schweiz leidet sogar darunter. Wir sagen, was Betroffene und Angehörige tun können.

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Young woman running in snowy forest

Ein gemeinsamer Spaziergang ist eine gute Gelegenheit, um herauszufinden, wie es dem anderen geht. Dabei keine Ratschläge verteilen, sondern aktiv und mitfühlend zuhören. 

Getty Images

Die Fallzahlen steigen wieder und wir sollen unsere sozialen Kontakten vermehrt einschränken. Die Massnahmen helfen gegen die Ausbreitung der Pandemie, aber viele Menschen leiden psychisch darunter. Betroffen seien vor allem Jugendliche, ältere Menschen und Migrantinnen und Migranten, sagt Nadia Pernollet, Beraterin bei Pro Mente Santa. Die Organisation bietet kostenlose psychologische Beratung per Telefon oder Textnachricht. 

Style: Nadia Pernollet, zurzeit begegnet uns öfters der Begriff «neue Einsamkeit». Was ist damit gemeint?
Nadia Pernollet: Einsamkeit war im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen immer ein Thema. Neu ist, dass es durch die Pandemie ein neues Gewicht erhalten hat. Es sind Menschen betroffen, die vorher kaum unter Einsamkeit gelitten haben. Bei anderen hat sich das Problem verschärft. 

Es gibt medizinische Studien, wonach Einsamkeit gleich gesundheitsschädigend sein soll, wie wenn jemand 15 Zigaretten am Tag raucht. Das kann man kaum glauben. 
Aber es ist leider so. Einsamkeit verstärkt nicht nur psychisches Leiden wie zum Beispiel Depressionen, sondern beeinflusst auch die körperliche Gesundheit. Folgen sind zum Beispiel Rückenschmerzen oder Schlafstörung. Aufgrund ihrer Beschwerden gehen Einsame öfters zum Arzt oder zur Ärztin. Deshalb muss es nicht nur ethisch-moralisch, sondern auch wirtschaftlich das Ziel sein, die Einsamkeit zu bekämpfen. In Grossbritannien hat der Staat das Problem erkannt: Es gibt ein Einsamkeitsministerium. Gemeinschaft wird dort ärztlich verschrieben.

In der Schweiz gibt ein Drittel der Bevölkerung an, unter Einsamkeitsgefühlen zu leiden. Wer ist besonders gefährdet?
Jugendliche und ältere Menschen. Beiden fehlt zurzeit die Freiheit, sich zu treffen. Ihr soziales Leben ist eingeschränkt. Gefährdet sind auch Migrantinnen und Migranten, die wenig integriert sind und weit weg von ihren Familien leben. Betonen möchte ich: Einsamkeit kennen alle, trotzdem ist es ein Tabuthema. Nur Verlierer*innen fühlen sich einsam, so die gängige Meinung. 

Frau arbeite im Homeoffice

Bei allen, die nun wieder zu Hause arbeiten müssen und unter der Einsamkeit leiden, helfen klare Strukturen. Sich zum Beispiel jeden Tag eine fixe Zeit für einen Spaziergang vornehmen. 

imago images/Westend61

Style: Viele spüren, wenn es jemandem in seinem Umfeld psychisch nicht gut geht, aber die Hemmschwelle, darüber zu reden, ist gross. Was raten Sie?
Dass man den Mut fasst und auf den anderen zugeht. Zum Beispiel zusammen einen Kaffee trinkt und dabei herauszufinden versucht, ob die Person darüber sprechen möchte oder nicht. Wichtig ist, dass man keinen Druck macht, sondern Angebote. Zum Beispiel: «Mir ist aufgefallen, dass du nicht mehr so viel rausgehst.» Oder: «Du machst einen traurigen Eindruck auf mich. Möchtest du darüber sprechen?»

Mit Angeboten meinen Sie auch, dass man sich mit guten Ratschlägen zurückhalten sollte.
Genau. Ratschläge sind auch Schläge, sage ich gern. Tipps sind natürlich meist ein Ausdruck der eigenen Hilflosigkeit, man will dem Gegenüber helfen. Trotzdem sollte man nicht in Aktivismus verfallen, sondern der anderen Person Zeit und Raum geben. Ihr aufrichtig zuhören, ihre Gefühle anerkennen und nicht von den eigenen Problemen zu sprechen beginnen.

Zurzeit sollen wir wieder unsere Kontakte reduzieren. Wie kommen wir trotzdem psychisch gut durch den Winter?
Indem wir körperliche Distanz nicht mit sozialer Distanz verwechseln. Am Wort Social Distancing habe ich mich immer gestört. Man kann sich auch ohne körperliche Nähe um andere kümmern. Gespräche sind wichtiger denn je. Treffen sind ja weiterhin möglich. Bei allen, die alleine zu Hause arbeiten müssen, helfen klare Strukturen. Zeiten für eine Joggingrunde oder einen Spaziergang reservieren und sich belohnen, wenn es geklappt hat.

Von Barbara Halter am 15. Januar 2022 - 11:09 Uhr