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Ins Kino mit Christian Jungen

«Ich will kein Mitleid im ersten Jahr»

Kämpferisch und solidarisch: Trotz Pandemie zieht der neue Festivaldirektor christian jungen das Zurich Film Festival durch. Er will ein Statement für Optimismus und gegen die digitale Vereinsamung abgeben.

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Christian Jungen, Direktor ZFF, Journalist, Zuerich, 2020, Fotos

Raus aus der Jogginghose, rein in den Anzug: Der neue Direktor Christian Jungen, 47, will die Menschen und vor allem auch das jüngere Publikum weg von der Couch und wieder ins Kino locken.

Geri Born

Christian Jungen, Ihr Start Anfang Jahr als neuer Direktor des ZFF sah gut aus.
Ja, mit den Besuchen am Sundance Festival und der Berlinale fing es super an. Ich war erleichtert, dass ich gleich auf dem höchsten Level Gespräche führen konnte. Ich war euphorisch. Dann kam der Lockdown. Die weitverbreitete Corona-Angst machte mir Mühe, denn ich ging weiter jeden Tag ins Büro. Ich vergesse nie, wie mir Ende März der Pöstler einen eingeschriebenen Brief übergab: die erste Vertragskündigung. Die Tage darauf kam der Pöstler immer öfters. Ein Horrorstart.

Fühlten Sie sich gelähmt?
Nein, eher kämpferisch gestimmt. Dank Gesprächen hielten wir viele Partner bei der Stange. Ich fand stets, das Leben müsse weitergehen, auch das kulturelle. Als erstes Festival standen wir hin und sagten, wir wollten «the real thing» veranstalten und keine virtuelle Ausgabe.

Sie hätten wegen der Pandemie das ZFF absagen können.
Ich will kein Mitleid im ersten Jahr, sondern zeigen, dass wir es können – als Zeichen von Optimismus. Man darf trotz der Pandemie auch wieder einmal Freude haben und ein Glas Wein trinken. Gerade in Krisen ist das Kino wichtig!

Woher kommt Ihr Optimismus?
Fairerweise muss ich sagen, dass ich dachte, die Krise gehe schneller vorbei. Und ich gebe nicht so schnell auf. Meine Eltern sagten stets: Von nichts kommt nichts. Menschen, die wie ich aus einer Arbeiterfamilie stammen, haben kämpfen gelernt. Ich hatte das Glück, dass ein pensionierter Lehrer in unserer Blocksiedlung irgendwas in mir sah und mich für die Gymiprüfung motivierte. Ich bin der erste Spross aus drei Generationen, der nicht bei Sulzer arbeitet.

Christian Jungen, Direktor ZFF, Journalist, Zuerich, 2020, Fotos

Der 47-jährige Winterthurer kommt aus einer Arbeiterfamilie und ist Vater einer Tochter.

Geri Born

Wie kam die Liebe zum Film?
Während des Studiums habe ich als Kassierer bei einem Kino gearbeitet und konnte die Filme gratis sehen. Da hat es mir den Ärmel reingenommen.

Vom Filmkritiker zum Festivaldirektor – was mögen Sie an Ihrem neuen Amt?
Wir sind im People’s Business und haben viel mit Menschen, aber auch mit ihren Egos zu tun. Es gibt eine Faustregel: Die, die vordergründig am bescheidensten tun, sind die, die im Hintergrund die grössten Anforderungen haben.

Was haben Sie unterschätzt?
Die Pandemie. Mein Titel ist eigentlich Artistic Director, doch wegen Corona musste ich nun neben dem Filmeschauen viele Partner treffen. Das war anstrengend. Und es wurmt mich, dass ich nicht für Verhandlungen nach Hollywood reisen konnte, sondern stattdessen sterile Zoom-Meetings führen musste. Ich bevorzuge den persönlichen Kontakt. Zudem gefällt mir der Lifestyle und der Optimismus von Los Angeles sehr.

Wie ist das Verhältnis des ZFF zu Hollywood?
Dank meinem Vorgänger Karl Spoerri sehr gut. Wir sind das wichtigste Herbstfestival und das zweitgrösste im deutschsprachigen Raum. «Green Book» hatte seine Europapremiere bei uns und gewann später den Oscar als bester Film. Das Gute an den Amerikanern ist, dass sie Kapitalisten sind: Solange wir ihnen etwas bringen, nehmen sie sich Zeit. Sehr viele haben auch eine Beziehung zur Schweiz. Entweder ist ein Kind in einem Zuger Internat gewesen oder sie haben ein Haus in Gstaad oder besuchen ihr Geld in Zürich. Und Hotels wie das «Dolder» oder das «Baur au Lac» sind für sie Disney-Schlösser. In Zürich ist alles «nice and easy».

Christian Jungen, Direktor ZFF, Journalist, Zuerich, 2020, Fotos

Christian Jungen führt als Festivaldirektor viele Verhandlungen.

Geri Born

Gastland ist dieses Jahr jedoch Frankreich.
Es ist das zweitgrösste westliche Filmland neben den USA mit vielen grossen Stars. Ich wusste bereits im November, dass ich Frankreich thematisieren will – im Nachhinein ist die Wahl natürlich ein Glücksfall.

Sie wollen nun auch die Romandie für sich gewinnen.
Wir sind ein internationales Festival, haben aber einen nationalen Anspruch. Mit der Pressekonferenz in Montreux auf Französisch starten wir eine Charmeoffensive.

Ihre Vorgänger Karl Spoerri und Nadja Schildknecht stehen Ihnen als Berater zur Seite.
Ich habe sie hin und wieder gefragt, wie ich am besten an Filme herankomme. Wobei Corona natürlich auch für sie neu ist.

Wie hoch sind die finanziellen Einbussen?
Wir sind mit einem Budget von 7,8 Millionen gestartet und haben sicher zehn Prozent weniger. Was Bund und Kanton entscheiden, beeinflusst unsere Tätigkeit stark. Wir haben gespart, wo wir konnten. So fiel das Reisen an andere Festivals weg. Umgekehrt investieren wir in Schutzmassnahmen. Aber wir sind nicht die Einzigen. Jammern nützt nichts.

Als Festival geben wir ein Statement ab gegen die digitale Vereinsamung.

Wie lange waren Sie nicht mehr im Kino?
So lange wie seit 30 Jahren nicht mehr. Es ist etwas anderes, einen Film am Bildschirm daheim zu sehen oder auf einer grossen Leinwand an einem Festival. Es wird Zeit, vom Sofa aufzustehen und sich wieder chic fürs Kino zu machen! Als Festival geben wir ein Statement ab gegen die digitale Vereinsamung. Von der Couch gehts ans Bellevue, von Netflix zum Kino. Wir haben ein gutes Programm. Es ist nur etwas europäischer als in den Jahren zuvor, weil die Amerikaner viele Filme aufs 2021 schieben.

Wie tanken Sie eigentlich Energie?
Ich gehe oft an der Limmat joggen. So lüfte ich meinen Kopf. Ich sehe Fischreiher und Schwäne, kann meine Gedanken ordnen und bin nicht am Handy. Zudem verzichte ich seit Wochen und bis zur Award Night auf Alkohol.

Worauf freuen Sie sich am meisten?
Ich freue mich auf die Eröffnung: wenn das Zelt steht und die ersten Filme gezeigt werden. Und ich freue mich auf den Dienstag nach dem Festival, wenn unser Team im «Vorderen Sternen» gemeinsam zu Abend isst und ich mich bei ihm bedanken kann. Es laufen alle momentan Extrameilen.

Welche Frage würden Sie als ehemaliger Journalist sich selber noch stellen?
Welchen Star ich am liebsten am ZFF hätte. Antwort: Clint Eastwood, eine der letzten mythischen Figuren von Hollywood. Aber der Wunsch wird leider wohl kaum mehr in Erfüllung gehen.

 

Zurich Film Festival 2020

Das 16. Zurich Film Festival findet vom 24. September bis zum 4. Oktober 2020 statt. In diesem Jahr freuen wir uns auf Gäste wie Juliette Binoche oder Til Schweiger. Alle Infos zum grossen Filmfest, Tickets und das Festivalprogramm zum Downloaden gibt es hier

Von Aurelia Robles am 21. September 2020 - 10:08 Uhr