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  4. Der Experte verrät: So wehrt man sich gegen einen gefährlichen Schulweg der Kinder
Experten-Interview

So können Eltern sich gegen einen gefährlichen Schulweg wehren

Nachdem kurz vor Weihnachten am Zürcher Escher-Wyss-Platz ein Kindergärtler auf seinem Schulweg tödlich verunglückte, wird klar: Viele Kinder in der Schweiz haben einen unzumutbaren Schulweg. Wir haben einen Schulwegsexperten gefragt, wie Eltern sich für die Sicherheit ihrer Kinder einsetzen können.

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Kind auf einer Kreuzung mit Fussgängerstreifen

Jedes Kind in der Schweiz hat mit der Schulpflicht auch das Recht auf einen zumutbaren Schulweg. 

Getty Images/EyeEm

Mit dem obligatorischen Grundschulunterricht erhält jedes Kind in der Schweiz das Recht auf einen zumutbaren Schulweg. In der Theorie. 

Die Praxis sieht anders aus. Obwohl Schulwegexperte Pascal Regli von Fussverkehr Schweiz vermutet, dass die meisten Kinder in der Schweiz einen zumutbaren Schulweg haben, gibt es Fälle, in denen die Sicherheit eines Schulkindes zwischen Elternhaus und Bildungsstätte nicht gewährleistet ist.

Nachdem im Dezember ein fünfjähriger Kindergärtler in Zürich auf seinem Schulweg zu Tode kam, ist die Betroffenheit riesig. Der tragische Vorfall rückt das Thema Schulwegsicherheit in den Fokus. Im Interview erklärt Pascal Regli, wie Eltern die Zumutbarkeit des Schulwegs ihrer Kinder beurteilen können und welche Möglichkeiten sie haben, um sich für die Sicherheit ihrer Kinder einzusetzen, ohne ihnen den Erlebnis-, Entdeckungs- und Entwicklungsraum Schulweg wegzunehmen. 

Pascal Regli, jedes Kind hat das Recht auf einen zumutbaren Schulweg. Dennoch gibt es Fälle, in denen der Schulweg in der Praxis nicht zumutbar ist. Wie hoch schätzen Sie die Zahl der betroffenen Kinder ein?
Hier eine Zahl zu nennen, wäre reine Spekulation. Diese Zahlen werden nicht erhoben. In unserer Tätigkeit haben wir festgestellt, dass das Recht auf einen zumutbaren Schulweg gar nicht flächendeckend bekannt ist. Gerade in der Romandie ist dies beispielsweise weniger ein Thema, obwohl dort die Zahl der Elterntaxis einiges grösser ist als in der Deutschschweiz und die Probleme auf den Schulwegen eher häufiger sind. Dass die Problematik normalerweise kaum im Vordergrund steht, lässt aber darauf schliessen, dass die meisten Kinder in der Schweiz einen zumutbaren Schulweg zurücklegen dürfen. 

Wie viele Anfragen dazu haben Sie ungefähr pro Woche?
Das ist saisonal sehr unterschiedlich. Jeweils zum Wechsel des Schuljahres hin, wenn die Eltern sich mit dem Schulweg ihrer Kinder auseinandersetzen oder in den ersten Schulwochen, wenn Probleme auf dem Schulweg sichtbar werden, häufen sich die Anfragen. Dann sind es mehrere pro Woche. 

Welche Faktoren machen einen Schulweg zumutbar – oder eben unzumutbar?
Drei Kriterien sind dafür relevant: Gefährlichkeit, Länge oder auch Höhendifferenz eines Schulwegs sowie die individuellen Voraussetzungen eines Kindes wie etwa Alter, Gesundheit und Entwicklungsstand. Die «Zumutbarkeit eines Schulwegs» ist ein juristischer Begriff. Er erfordert die juristische Beurteilung des konkreten Einzelfalls. Deswegen kann man auch nicht pauschal Streckenlängen oder Verkehrssituationen als unzumutbar nennen. 

«Eltern können ihrer Verantwortung erst nachkommen, wenn der Schulweg zumutbar ist. Ansonsten müssen Schulbehörden der Gemeinde für diese Zumutbarkeit sorgen.»

Pascal Regli, Schulwegexperte von Fussverkehr Schweiz

Diese dritte Komponente wird jedoch erst berücksichtigt, sobald Eltern sich gegen einen in ihren Augen unzumutbaren Schulweg wehren. Wer sind die ersten Ansprechpartner?
Grundsätzlich sind die Eltern für den Schulweg ihrer Kinder verantwortlich. In unseren Beratungen müssen wir jedoch ein «Aber» hinzufügen: Dieser Verantwortung können Eltern erst nachkommen, wenn der Schulweg zumutbar ist. Ansonsten müssen Schulbehörden der Gemeinden für diese Zumutbarkeit sorgen. An diese sollten Eltern sich wenden, wenn sie den Schulweg als nicht zumutbar empfinden. Infos bieten neben Fussverkehr Schweiz die Beratungsstelle für Unfallverhütung BFU oder auch der Verkehrs-Club der Schweiz VCS auf seiner Informationsseite schulwege.ch.

Was macht einen Schulweg auf jeden Fall unzumutbar?
Neben herausfordernden Verkehrssituationen oder einer grossen Distanz zum Beispiel auch, wenn einem Kind über Mittag zu wenig Erholungszeit bleibt. Man sagt, dass ein Kind 30 Minuten Pause braucht, um sich erholen zu können. Das Mittagessen ist hier nicht eingerechnet, das nimmt zusätzliche 15 Minuten in Anspruch. Hat ein Kind weniger Zeit zur Verfügung, ist dies keine ausreichende Mittagspause. 

Welche Lösungsansätze gäbe es hier?
Da gibts inzwischen auch Referenzurteile. Das Bundesgericht hat zum Beispiel in einem Fall entschieden, dass auch ein Mittagstisch angeboten werden kann, um eine ausreichende Pause und eine zumutbare Situation über Mittag zu garantieren. Die zusätzlichen Kosten für die auswärtige Verpflegung mussten in diesem Fall jedoch nicht die Eltern tragen. Wegen des Unentgeltlichkeitsprinzips durfte die Schule ihnen nicht die Vollkosten, sondern nur den Betrag berechnen, den ein Mittagessen zu Hause gekostet hätte. Weitere Referenzurteile sowie umfassende Informationen zur Beurteilung der Schulwegsicherheit findet man im Faktenblatt von Fussverkehr Schweiz.

«Im städtischen Raum ist es eher die Verkehrssicherheit, die Sorgen bereitet. Im ländlichen Raum sind es oft die Distanzen gepaart mit gefährdenden Verkehrssituationen.»

Pascal Regli, Schulwegexperte Fussverkehr Schweiz

Durch den tödlichen Unfall eines Kindergartenkindes in Zürich ist die Zumutbarkeit von Schulwegen in den Fokus geraten. Bringt dieser tragische Fall etwas ins Rollen?
Zum konkreten Fall fehlen mir die Hindergrundinformationen. Aber was aus unserer Sicht schade ist: Es muss erst etwas passieren, damit ein so wichtiges Thema wie die Zumutbarkeit der Schulwege Beachtung erhält. Dabei sollte es selbstverständlich sein, aus Sicht einer Gemeinde für zumutbare Schulwege zu sorgen. 

Besteht das Problem unzumutbarer Schulwege eher im städtischen oder im ländlichen Raum?
Unsere eigene Beratungspraxis betrifft häufiger Schulwegprobleme in Dörfern und Agglomerationsgemeinden. Im städtischen Raum ist es eher die Verkehrssicherheit, die Sorgen bereitet. Im ländlichen Raum sind es oft die Distanzen gepaart mit gefährdenden Verkehrssituationen. Eine verkehrsbelastete Überlandstrasse ohne separate Gehfläche wäre ein Beispiel eines unzumutbaren Schulwegs auf dem Lande. Was man aber sagen kann: Oftmals gelingt es im städtischen Raum effizienter, ein Problem in Angriff zu nehmen. Einerseits weil es mehrere Schulen und Kindergärten gibt, die eine flexible Schulzuteilung ohne gefährliche Situationen ermöglicht. Andererseits weil die Zuständigkeiten geregelt sind und es meist jemanden gibt, der sich mit der Schulwegsicherheit befasst. In ländlichen Gebieten stellen wir fest, dass Beanstandungen betreffend der Zumutbarkeit eines Schulwegs manchmal einfach ausgesessen werden. Bedenken seitens der Eltern werden abgetan mit der Begründung, dass man doch vor 40 Jahren den selben Schulweg auch gemeistert habe. Und dabei wird vergessen, dass sich der Strassenverkehr in den vergangenen 40 Jahren vervielfacht hat. 

Was können Eltern tun, wenn Schulbehörden und Gemeinde nicht reagieren?
Dann bleibt der Verfahrensweg, zu dem wir Betroffenen jedoch nur raten, wenn alle anderen Bemühungen nicht fruchten. Der Verfahrensweg kostet Zeit, Nerven und manchmal auch Geld. Man muss bereit sein, sich in einer Gemeinde unbeliebt zu machen. Ein Rechtsstreit kann sich länger hinziehen. Wenn man bis vor Bundesgericht zieht, kommt ein Urteil unter Umständen erst zustande, wenn ein Problem gar nicht mehr aktuell ist, weil das Kind der Situation bereits entwachsen ist. 

«Attraktive Schulwege ergänzt mit guten familienergänzenden Betreuungsstrukturen sind ein wichtiger Standortfaktor für Gemeinden»

Pascal Regli, Schulwegexperte Fussverkehr Schweiz

Was hat eine Gemeinde davon, sichere Schulwege zu schaffen?
Attraktive Schulwege ergänzt mit guten familienergänzenden Betreuungsstrukturen sind ein wichtiger Standortfaktor für Gemeinden, die junge und steuerkräftige Familien anziehen möchten. 

Welche Lösungen gibt es, um zumutbare Schulwege zu schaffen?
Zahlreiche bauliche oder organisatorische Massnahmen sind denkbar. Gefährliche Situationen mit baulichen Massnahmen zu entschärfen, hat den Vorteil, dass diese nicht nur den Kindern auf den Schulwegen helfen, sondern allen Menschen zugute kommen, die zu Fuss unterwegs sind. Bauliche Massnahmen können jedoch Schulbehörden nicht selber realisieren, da sind sie auf die Mithilfe von Planungs- und Baubehörden angewiesen. Als organisatorische Massnahme kann die Gemeinde einen Schulbus einrichten oder ein Taxiunternehmen beauftragen, falls nur einzelne Schüler betroffen sind. Es gibt auch die Möglichkeit, dass Eltern eine Entschädigung kriegen und dann von ihnen erwartet wird, dass sie den Transport übernehmen. In der Wahl der Massnahme ist die Schulbehörde frei. Gewährt eine Massnahme die Zumutbarkeit des Schulwegs, kann die betroffene Familie nicht wählen, ob sie diese als geeignet empfindet. 

Gibt es Fälle, in denen Sie ein Elterntaxi befürworten?
Manchmal geht es nicht anders, gerade wenn die Kinder ausserhalb des Siedlungsgebietes wohnen. Aber selbst für den Fall des Elterntaxis gibt es Lösungen, die es einem Kind ermöglichen, die Vorteile eines Schulwegs zu geniessen. Im Tessin hat man das Konzept der «Isola Felice» entwickelt. Innerhalb eines Umkreises um die Schule ist die Zufahrt mit dem Auto nicht erwünscht, dafür werden am Rand der «Isola Felice» sichere Parkplätze angeboten. Bis zu diesem Ort übernehmen die Eltern den Transport mit dem Privatauto, von dort aus gehen die Kinder zu Fuss zur Schule. So geht ihnen der Schulweg als freier Entwicklungs- und Entdeckungsraum nicht verloren. 

Wie man Kindern Verkehrssicherheit auf dem Schulweg beibringt, erfahrt ihr in unserem Artikel: «7 Tipps für einen sicheren Schulweg»

Von KMY am 9. Februar 2023 - 07:00 Uhr