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Wie man lernt, damit umzugehen

Tabuthema Kinderneid: Auch Männer sind betroffen

Dass Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch manchmal Mütter beneiden, ist kein Geheimnis. Doch der Kinderneid betrifft nicht nur das weibliche Geschlecht. Er ist nur in der Männerwelt ein grosses Tabu. Unsere Expertin erklärt, wieso. Und was man dagegen tun kann.

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Mann ist neidisch auf Paar

Wenn ein Freund plötzlich eine Familie hat, während man selbst diesen Traum noch nicht verwirklichen konnte, kann das eine Freundschaft belasten.

Getty Images

Jedes fünfte Paar in der Schweiz kämpft mit der Unfruchtbarkeit. Erst klappt es nicht mit der Schwangerschaft, dann folgen Abklärungen, irgendwann, wenn Budget, Weltanschauung und Gesundheit es zulassen, folgen medizinisch unterstützte Versuche, eine Familie zu gründen. Während gefühlt alle anderen Paare mühelos ein Baby ums andere kriegen. Für betroffene Paare ist diese Situation extrem belastend und ufert nicht selten in Kinderneid aus. Vor allem Frauen leiden darunter, aber nicht nur, sagt Kinderwunsch-Coach Anita Mäder im Interview.

Anita Mäder, kommt Kinderneid auch bei Männern vor?
Ja tatsächlich, sehr oft sogar. Ich beobachte, dass Frauen mit bislang unerfülltem Kinderwunsch häufig werdende Mütter um die Schwangerschaft beneiden, während Männer mit unerfülltem Kinderwunsch dem Familienleben nachtrauern.

Wieso ist der Kinderneid der Männer kein Thema in der Gesellschaft?
Er ist viel weniger sichtbar. Ich denke, das hängt damit zusammen, dass Männer einen anderen Umgang mit Emotionen pflegen und diese sehr oft für sich behalten, während Frauen ihre Gefühle stärker gegen aussen tragen und das Gespräch darüber suchen. Ausserdem ist Kinderneid auch mit Scham behaftet. Wenn man merkt, dass man jemandem etwas nicht gönnt, den man doch eigentlich mag, dann schämt man sich oft für dieses Gefühl.

«Man sollte sich selbst nicht dafür verurteilen, denn Neid und Eifersucht gehören zum Menschen.»

Anita Mäder

Wie kommt man dagegen an?
Der erste Schritt ist sicher, dass man sich eingesteht, dass man jemanden um sein Kind, seine Schwangerschaft oder seine Familie beneidet. Und dass dieses Gefühl normal und ok ist. Man sollte sich selbst nicht dafür verurteilen, denn Neid und Eifersucht gehören zum Menschen. Alle Gefühle haben ihre Berechtigung. Man kann sie jedoch hinterfragen: Was will mir dieses Gefühl sagen?

Was könnte das sein?
Der Neid kann einem zeigen, wie gross dieser Herzenswunsch nach dem eigenen Kind ist. Da wird einem bewusst, wie viel einem ein Traum bedeutet. Wenn man sich dies vor Augen führt, schafft man Akzeptanz für dieses unliebsame Gefühl. Es kann helfen, das rationale Denken beiseite zu schieben und sich in die Emotion einzufühlen. Spüren, wo ist sie genau zuhause? Das hilft, dass man mehr bei sich und seinem Wunsch bleiben kann, statt sich ständig mit anderen zu vergleichen und dadurch Neid zu verspüren.

Darf man sich den Freunden, auf die man neidisch ist, auch anvertrauen, oder belastet dies eine Freundschaft zu sehr?
Natürlich gibt es den Fall, dass eine Freundschaft durch den Kinderneid pausiert wird. Allerdings erlebe ich auch immer wieder, dass das Umfeld verständnisvoll reagiert, wenn man die eigenen Gefühle ausdrücken kann. Wenn man einfach zugibt, dass man Abstand braucht, weil es einem schwer fällt, junge Eltern mit ihrem Baby zu sehen oder ständig von ihrer Familie sprechen zu hören, schafft man damit die Grundlage für Verständnis. Wenn kinderlose Paare sich von Eltern in ihrem Freundeskreis distanzieren, ohne eine Erklärung dafür zu liefern, ergeben sich oft schwierigere Situationen.

«Den Kinderwunsch aufgeben zu müssen gleicht einem Trauerprozess.»

Anita Mäder

Wenn mir eine Freundin oder ein Freund ihren Kinderneid beichtet, wie reagiere ich richtig?
In solchen Fragen zu pauschalisieren, ist immer schwierig. Wichtig ist, das Gegenüber zu fragen, ob es benennen kann, was ihm gut tun würde. Nachfragen, was man für die betroffene Person tun kann, um ihr die Situation zu erleichtern. Vielleicht sind es – bis auf Weiteres – Treffen ohne Kinder. Oder man muss aushalten, dass die Freundin oder der Freund sich im Moment nicht mehr treffen möchte. Jedoch ist natürlich auch das eine schwierige Ausgangslage, weil man als Eltern ja seine Freude über die eigenen Kinder teilen möchte. Tipps und Ratschläge sollte man vermeiden, denn diese sind für Paare mit unerfülltem Kinderwunsch manchmal verletzend oder schwierig anzunehmen.

Viele Paare brauchen einfach etwas länger Geduld. Manchmal jahrelang. Was, wenn sich der Kinderwunsch nie erfüllt?
Den Kinderwunsch aufgeben zu müssen gleicht einem Trauerprozess. Man weiss das ja meist nicht von heute auf morgen, dass es definitiv nicht gehen wird. Es kommt in Wellen. Manchmal kommt man besser damit klar, manchmal gar nicht. Es ist auf jeden Fall ein einschneidendes Erlebnis, das existenzielle Fragen aufwirft. Man muss für sich herausfinden, was man mit diesen 20 Lebensjahren machen will, die man mit Elternaufgaben füllen wollte. Hier kann man für sich oder mit professioneller Hilfe versuchen, herauszufinden, was einen noch glücklich machen könnte. Manche Frauen und Männer mit unerfülltem Kinderwunsch tragen viel Liebe in sich, die sie gerne weitergeben möchten. Vielleicht gibt es ein Kind im Umfeld, für das man die Rolle einer liebevollen Bezugsperson übernehmen darf. Das nimmt den Fokus vom Schmerz weg und legt ihn auf eine neue Aufgabe.

Können Paare einen unerfüllten Kinderwunsch vollständig überwinden?
Oft geht man ja davon aus, dass Kinder einen glücklich machen. Die Praxis zeigt, dass dies nicht unbedingt der Fall ist. Und: Die Eltern glücklich zu machen ist auch nicht die Aufgabe der Kinder. Diese Erwartung sollten sie gar nicht erfüllen müssen. Es hilft, sich dies vor Augen zu führen. Und sich als vollwertig wahrzunehmen, auch ohne Kind. So ist es durchaus möglich, ein erfülltes Leben zu führen mit dem unerfüllten Kinderwunsch.

Von KMY am 6. Juni 2022 - 07:09 Uhr