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  4. Wie Eltern richtig reagieren, wenn ihre Kinder sie beschimpfen: Caroline Märki vom Familylab Schweiz

Caroline Märki vom Familylab Schweiz im Gespräch

«Mein Kind nannte mich einmal dumme, fette Sau»

«Beziehung vor Erziehung» ist ein Leitsatz, nach dem sich immer mehr Eltern richten. Tönt weise – doch wie geht das überhaupt im stressigen Familienalltag? In unserer Serie zum Thema fragen wir verschiedene Fachpersonen nach Praxisbeispielen und eigenen Erfahrungen.

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Sohn umarmt Elternteil

Zuhören statt bestrafen: Eltern können die Beziehung zu ihren Kindern stärken, wenn sie sie auch in schwierigen Momenten ernst nehmen. 

Getty Images

Jesper Juul hat den Leitsatz «Beziehung vor Erziehung» geprägt. Der dänische Familientherapeut und Erfolgsautor setzte sich zeitlebens dafür ein, dass Eltern und Erziehungsberechtigte die Qualität ihrer Beziehung zu Kindern ins Zentrum stellen. Denn nur, wer eine gesunde zwischenmenschliche Beziehung pflege, eine gemeinsame Sprache finde und gegenseitigen Respekt ausdrücke, könne auch Ängste, Sorgen und Widerstände überwinden, so Juul. «Die Beziehung zu einem Kind ist keine Einbahnstrasse. Das Kind soll nicht nur entgegennehmen, was wir ihm geben wollen. Wir müssen auch bereit sein, das entgegenzunehmen, was unsere Kinder uns geben.» 

Das tönt sehr weise. Nur – wie macht man das?

Was ganz konkret bedeutet es im Familienalltag, die Beziehung zum Kind zu stärken um vom klassischen Erziehen wegzukommen? Um Eltern in dieser Frage zu unterstützen, hat Jesper Juul 2004 die internationale Organisation Familylab gegründet. Es ist ein Beratungs- und Bildungsangebot für Menschen, die privat oder beruflich mit Kindern arbeiten. Caroline Märki hat Jesper Juul als Mentor gesehen und das Familylab Schweiz gegründet. Sie ist psychosoziale Beraterin und Ausbildnerin sowie dreifache Mutter und kann beim Thema «Beziehung vor Erziehung» aus dem Vollen schöpfen. 

Caroline Märki, wenn jemand noch nie vom Leitsatz «Beziehung vor Erziehung» gehört hat, wie erklären sie, worum es geht?
Seit Generationen bewegen wir uns in Erziehungsfragen auf einer Skala zwischen zwei Polen: Autoritäre Erziehung und Laisser-faire, oder auch antiautoritäre Erziehung. Irgendwo auf dieser Skala sieht man sich als Eltern. Doch beide diese Erziehungsmodelle stellen den Gehorsam des Kindes in den Mittelpunkt. Wenn wir von «Beziehung vor Erziehung» sprechen, lösen wir uns von dieser Skala und betrachten Erziehung neu. Die wichtige Frage ist nicht mehr, ob das Kind tut, was ich will oder eben nicht, sondern ob ich in Beziehung zum Kind stehe. 

«Beziehung heisst nicht zwingend Harmonie. Auch Reibung erzeugt Wärme.»

Caroline Märki, Familylab Schweiz

Was heisst das denn, mit dem Kind in Beziehung sein?
Beziehung heisst nicht zwingend Harmonie. Auch Reibung erzeugt Wärme. Konflikte gehören genauso dazu wie Kuscheln. Es geht nicht darum, als Mutter die beste Freundin des Kindes zu sein und pure Harmonie zu leben, sondern darum, respektvoll und interessiert miteinander umzugehen. Wobei stets die Erwachsenen in der Verantwortung stehen, die Beziehung zu fördern. Die Erwachsenen müssen den ersten Schritt machen. 

Wie sieht ein erster Schritt aus?
Ich kann dies Anhand eines Beispiels aus meiner eigenen Familie verdeutlichen. Als mein Sohn etwa sieben Jahre alt war, hatten wir einen Konflikt. Ich wollte etwas von ihm, was, weiss ich nicht mehr, und er sträubte sich dagegen. Es war nichts Grosses, aber irgendwann beschimpfte er mich als «dumme, fette Sau». Er hat gezielt Worte gewählt, von denen er wusste, dass man sie nicht zu jemandem sagt. In der autoritären Erziehung gäbe es dafür eine Strafe oder Konsequenz. In der Laisser-faire-Erziehung würde man sagen, er sei halt ein Kind, und wegsehen. 

Und wie haben Sie reagiert?
Ich war geschockt und erst einmal sprachlos. Zum Glück, denn so hatte ich Zeit zum Überlegen. Es war eigentlich keine grosse Sache, die ich von ihm wollte. Ich war wohl etwas laut geworden aber meiner Meinung nach nicht verletzend. Aber irgendetwas hatte ich offenbar etwas getan, so dass mein Kind sich in die Ecke gedrängt fühlte und nur noch diese eine Waffe zücken konnte. Also fragte ich ihn danach: Was habe ich getan, dass du dich so fühlst?

Manchmal entstehen auch ganz unerwartete Lösungen für Probleme, wenn wir Interesse zeigen. 

Caroline Märki

Was passiert bei einem Kind, wenn wir mit Interesse reagieren statt mit Strafe oder Wegsehen?
Damit signalisiert man dem Kind, dass man es ernst nimmt und respektiert. Man zeigt Interesse an seinen Beweggründen und Emotionen. Somit entsteht Raum, damit sein Selbstwertgefühl wachsen und es Resilienz entwickeln kann. Manchmal entstehen auch ganz unerwartete Lösungen für Probleme, wenn wir Interesse zeigen. 

Haben Sie dazu ein Beispiel?
Als meine jüngere Tochter ungefähr zehn Jahre alt war, ging sie gerne samstags nach Zürich, um ein wenig in der Stadt herum zu schlendern. Jedes Mal kam sie eine halbe Stunde oder sogar eine Stunde später nach Hause, als wir vereinbart hatten. Sie vergass einfach immer die Zeit. Einmal bat ich sie, heute wirklich pünktlich um 17 Uhr Zuhause zu sein, weil es mir an diesem Tag wichtig war. Um 17 Uhr rief sie mich an und war ganz aufgeregt, weil sie wieder zu spät dran war. Nun hätte ich schimpfen können und als Konsequenz diese Ausflüge streichen. Aber ich entschied mich, sie einfach zu fragen, warum es ihr eigentlich so schwer falle, pünktlich zu sein. Ich fragte, du hast doch eine Uhr und ein Handy, guck doch einfach immer wieder mal nach, wie spät es ist. Da schaute sie mich mit grossen Augen an und sagte: Das ist doch stressig! Ich erklärte ihr, dass man es im Alltag so macht, um pünktlich zu sein. Und dann ja die Ferien hat, in denen man nicht immer auf die Uhr schauen muss. Das Gespräch dauerte eine knappe Minute, aber ab diesem Moment war sie pünktlich, weil ich ihr erklärt hatte, wie man das hinkriegt. Allein war sie schlicht nicht auf die Idee gekommen, weil sie ihre Ausflüge immer so genoss.

«Kinder brauchen keine perfekten Eltern – auf keinen Fall.»

Caroline Märki

Ist es Ihnen immer gelungen, im Familienalltag die Mutter zu sein, die sie sein wollten?
Nein, unser Familienleben war überhaupt nicht immer harmonisch. Und ich habe auch Fehler gemacht. Die Beziehung zu meiner ältesten Tochter habe ich während ihrer Teenagerjahre nicht wirklich gefördert. Ich dachte, Teenager lässt man einfach in Ruhe. Später sagte sie mir, sie hätte eigentlich von mir gebraucht, dass ich mich mehr kümmere. Das kommt vor und man kann es wieder auflösen, wenn man dem Kind zuhört und seine Sichtweise annimmt. 

Es bedeutet auch, dass man als Eltern bereit ist, Fehler einzugestehen.
Unbedingt. Das ist ein Thema, das mich sehr beschäftigt und das ich immer wieder betone. Eltern dürfen Schwäche zeigen und Fehler machen. Kinder brauchen keine perfekten Eltern – auf keinen Fall.

Was ist falsch an perfekten Eltern?
Dass ein Kind sich an einem unrealistischen Massstab orientiert. Perfektionismus ist eine hohe Messlatte. Das ist nicht gesund für ein Kind. Kinder brauchen Menschen, von denen sie lernen können, mit Emotionen, Schwächen und Fehlern umzugehen. Sie dürfen merken: Aha, man macht Fehler und das ist kein Weltuntergang. Aha, Mama und Papa machen auch Fehler und sie stehen dazu. Aha, sie übernehmen Verantwortung und entschuldigen sich. Aha, so geht man also damit um. 

Angenommen, man hört jetzt zum ersten Mal vom Leitsatz «Beziehung vor Erziehung» und möchte sich danach ausrichten – ist es irgendwann zu spät, um umzuschwenken?
Man sagt, im Alter von zehn, elf, zwölf Jahren ist die Dialog- und Wertekultur in einer Familie etabliert. Dann wird es schwierig, daran etwas zu ändern. Aber es ist möglich, wenn Eltern ihre Kinder mit einbeziehen in den Prozess. Wenn sich Eltern von Jugendlichen bei uns melden, bitte ich sie jeweils, ihre Kinder mitzunehmen zum Coaching, so dass die Jugendlichen hören, wie ihre Eltern den Switch machen. Auch das Beispiel von meiner ältesten Tochter zeigt, dass es nie zu spät ist, als Eltern Verantwortung für die Qualität der Beziehung zu seinen Kindern zu übernehmen. 

Von KMY am 17. März 2023 - 17:34 Uhr