Lena (4) zeichnet zwei Striche auf einen Papierstreifen: einen horizontalen und einen vertikalen. Sie berühren sich unten links – ein L.
«Ich kann schon meinen ganzen Namen schreiben», sagt sie stolz. «Soll ich mal zeigen?» Es folgen die Grossbuchstaben E, N, A und I. «Lenai», liest die Kleine vor. Ihre Mutter, Sonia Kälin (40) schmunzelt: «Lena hätte gern einen Namen mit I. So wie ihre kleine Schwester Noemi und ich. Als sie herausfand, dass anscheinend alle ausser sie selbst ihren Lieblingsbuchstaben im Namen haben, war sie enttäuscht.» Dass ihr Vater Stefan Halter (45) heisst, zählt für Lena nicht. Ihn nennt sie schliesslich «Dädi».
Vor rund einem halben Jahr begann Lena, sich für Buchstaben zu interessieren. «Ganz ohne Druck von uns – sie wollte einfach wissen, wie das geht», sagt Kälin. Die ältere ihrer beiden Töchter kennt auch schon ein paar Zahlen: Sie zählt auf Deutsch bis 100 und auf Englisch bis 10 – Fähigkeiten, die laut Lehrplan erst in der ersten Klasse oder später unterrichtet werden. «Ja, sie ist ganz schön vif und interessiert», bestätigt Sonia Kälin. «Trotzdem haben wir uns entschieden, ihren Kindergartenstart um ein Jahr zurückzustellen.» Anstatt dieser Tage startet Lena erst nächsten Sommer ihre Schulkarriere im Waldkindergarten.
Personal Trainer Stefan Halter und Moderatorin Sonia Kälin wohnen mit ihren Töchtern Lena (r.) und Noemi ganz ländlich in seinem Elternhaus.
Fabienne BühlerSonia Kälin, warum geht Lena noch nicht in den Kindergarten?
Es gibt zwei Überlegungen, die dagegensprechen. Zum einen hätte Lena einen zwei Kilometer langen Kindergartenweg, den sie mit vier Jahren noch nicht allein bewältigen könnte. Zum anderen finde ich: Die Kinder starten sehr jung in ein System, das ihnen viel Anpassung abverlangt und wenig Raum fürs Kindsein lässt.
Lena scheint dafür bereit zu sein.
Jetzt vielleicht, ja. Aber ich habe selbst erlebt, wie sich eine frühe Einschulung später rächen kann.
Inwiefern?
Obwohl ich nach Empfehlung der Kindergärtnerin bereits ein Jahr wiederholte, hatte ich während der gesamten Schulzeit Mühe mit dem Druck, der auf mir lastete. Als ich mit zwölf ins Gymnasium kam, fühlte ich mich völlig überfordert. Heute würde man mir wahrscheinlich eine leichte Dyskalkulie oder sonst was diagnostizieren. Es war ein Kampf. Und aus meiner Zeit als Sekundarlehrerin weiss ich: Eine gewisse kognitive Reife hilft enorm. Diejenigen, die ein Jahr älter sind, gehen oft souveräner durch die Ober-stufe. Die anderen verlieren schnell die Freude am Lernen, weil sie ständig hinterherhinken.
Haben Sie keine Angst, dass Lena unterfordert sein könnte?
Mit meinem pädagogischen Hintergrund kann ich das auffangen. Aber ich kann Lena in diesem geschenkten Familienjahr noch viel mehr mitgeben: Wir kochen gemeinsam, machen den Haushalt und bewegen uns viel. Das alles wird sie fürs Leben stärken.
Vergangenen Herbst hat Sonia Kälin nach mehr als 15 Jahren den Lehrberuf aufgegeben, um sich als Eventmoderatorin und Markenbotschafterin selbstständig zu machen. Daneben besucht sie die Bäuerinnenschule. «Mein neu erworbenes Wissen setze ich täglich mit meinen Töchtern in unserem Haus und im Garten um.»
Das Grundstück der Familie mit Blick auf die Obwaldner Bergkulisse ist gross und vielfältig: Es bietet Platz zum Spielen, Entdecken und Austoben. Am Birnbaum hängen Schaukeln, vor dem ehemaligen Stöckli steht ein Tisch zum Puzzeln und Zeichnen. Auf der kaum befahrenen Strasse hinter dem Haus können Lena und Noemi, 2, unter Aufsicht Dreirad fahren und mit Kreide malen.
Auch im Haushalt helfen die beiden mit. Die Erbsli, die sie am Morgen gepflückt haben, wird es zum Zmittag geben. «Falls sie dann überhaupt noch Hunger haben», sagt Dädi Stefan, der seine Mädchen beobachtet. Lena und Noemi füttern die Goldfische im Teich und stecken sich dabei immer mal wieder Fischfutter in den eigenen Mund. «Wenn du so viel davon naschst, kannst du vielleicht bald noch besser schwimmen», ruft Stefan seiner Ältesten zu. Seit Kurzem braucht Lena keine Schwimmhilfe mehr. Ob der Aussicht, noch mehr Fortschritte zu machen, steckt sie sich gleich noch ein Krümelchen in den Mund.
Ein gutes Team: Lena und ihre kleine Schwester Noemi.
Fabienne BühlerSonia Kälin, würden Sie eine spätere Einschulung allen Familien empfehlen?
Nein. Es hängt stark von der Situation ab. Wenn zu Hause eine andere Sprache gesprochen wird, kann es wichtig sein, früh im schulischen Umfeld eine Landessprache zu lernen. Auch haben nicht alle Eltern die Möglichkeit, ein Jahr zu überbrücken.
Sie sind zeitlich, finanziell und intellektuell dazu in der Lage. Ein Privileg?
Wir schätzen es sehr, dass wir die Ressourcen haben, um eine Entscheidung zu fällen, die für uns stimmt. Aber sie hat ihren Preis. Wir arbeiten beide weniger, um mehr Zeit mit unseren Kindern zu verbringen. Dafür verzichten wir auf Luxus wie grosse Ferien oder ein zweites Auto. Wir bewegen uns hier viel, machen Velotouren und Wanderungen.
Spätestens in einem Jahr wird Lena definitiv eingeschult. Was würden Sie vorher gern noch am Schulsystem ändern, wenn Sie könnten?
Das System ist fast weniger relevant als die Lehrperson. Von ihr hängt alles ab, denn sie hat viel Gestaltungsspielraum. Ich wünsche mir, dass Lena in einer Klasse landet, in der sie nicht stundenlang still sitzen muss, sondern lernen darf, wie es Kinder tun: mit Bewegung, Neugier und allen Sinnen.
Dieser Artikel wurde erstmals am 15. August 2025 publiziert.