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Das Leiden der vergessenen Kinder

Darum ist «Platzspitzbaby» der wichtigste Schweizer Film

Ein Film über die grösste offene Drogenszene der Welt mitten in Zürich wäre an sich schon relevant und spannend genug. Doch «Platzspitzbaby» will nicht das Elend der Drogenabhängigen anklagen. Vielmehr legt es den Finger in eine ganz andere Wunde. Unsere Redaktorin hat sich den Film angeschaut und eine schlaflose Nacht damit verbracht, über ihre eigene Ignoranz nachzudenken.

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Platzspitzbaby Luna Mwezi

Luna Mwenzi spielt Mia, das «Platzspitzbaby».

Ascot Elite Entertainment Group
Berit-Silja Gründlers
Berit-Silja Gründlers

Die Geschichte des Platzspitz fasziniert mich seit langem. Vor 20 Jahren bin ich aus einem Dorf in Deutschland in die Schweiz, genauer gesagt nach Thun, gezogen. «Wow, da darfst du aber kein Kaugummi auf die Strasse werfen. Die verhaften dich grad», sagten meine Freunde. 

Oh, wie falsch sie lagen. In Thun war die Realität eine andere. Während ich mit meinen Freunden am Mühleplatz fröhlich einen Drink nach dem anderen kippte, sassen wenige Meter weiter Drogenabhängige am Ufer der Aare. Die offene Szene in dieser idyllischen Stadt machte mich neugierig und ich erfuhr, dass das noch gar nichts sei. Ich solle mal über den Platzspitz lesen. 

Die Geschichte des Platzspitz

In den 80er- und 90er-Jahren beherbergte der Park am Zürcher Hauptbahnhof die grösste offene Drogenszene der Welt. Zehntausende pilgerten in die Stadt an der Limmat, um sich am helllichten Tag Heroin zu spritzen und sich ihrem Rausch hinzugeben. Gewalt und Prostitution waren die Begleiterscheinungen. Bilder aus der Zeit zeigen zerlumpte Menschen, die zwischen Dreck, Müll und Exkrementen liegen. Hunderte starben. Der Schock in der Bevölkerung sass tief. 

Nach der Räumung des Platzspitz zog die Szene für einige Jahre wenige Kilometer weiter an den Letten, an dem sich das Schauspiel wiederholte. Erst als die Schweiz eine progressivere Drogenpolitik umsetzte, Methadonprogramme ins Leben rief und den Süchtigen half, statt sie ins Abseits zu schieben, entspannte sich die Lage. Es wurde mehr Acht auf die Abhängigen gegeben. Dabei vergessen aber gingen deren Kinder. 

Die Drogenszene auf den Schienen am Lettensteg in Zuerich, aufgenommen  im Juli 1993. (KEYSTONE/Str) === BLACK AND WHITE ONLY ===

Drogensüchtige am Zürcher Letten: Nach der Räumung des Platzspitz verlagerte sich die offene Drogenszene hierher. 

Keystone
Unglaublich gute Schauspieler

Die Geschichte dieser Kinder verkörpert Luna Mwenzi, im neuen Film «Platzspitzbaby». Sie spielt die elfjährige Mia. Die Mutter des Mädchens, Sandrine, ist schwer drogenabhängig, eine vom Platzspitz. Nach der Räumung des Areals zieht sie mit ihrer Tochter in ein kleines Dorf im Zürcher Oberland. Doch nichts ist Sandrine wichtiger als ihre Droge. Nicht einmal ihr Kind. Sie verfällt immer wieder der Sucht. Entgiftet, macht ihrem Mädchen Hoffnung und zerstört diese.

Sarah Spale ist unglaublich in der Rolle der Heroinsüchtigen. Intensiv, dreckig, böse, liebevoll, wild, nimmt sie den Zuschauer mit in die Hölle der Abhängigkeit. Doch der eigentliche «Star» des Films ist die noch unbekannte Luna Mwenzi. Die Tiefe, die sie Mia einhaucht, ist so echt. Wenn ihr vor Wut über einen Rückfall die Naseflügel zucken, wenn sie nicht weint, wo andere in Tränen ausbrächen, aber man doch jedes Gefühl in ihrem Gesicht sieht, wenn sie nur mit dem Mund lächelt, ihre Augen aber traurig bleiben, dann lässt sich erahnen, wie grausam es sein muss, dem Chaos und der Sucht hilflos ausgeliefert zu sein. 

Sarah Spale als Sandrine in Platzspitzbaby

Sarah Spale ist wahnsinnig intensiv in ihrer Darstellung der heroinsüchtigen Sandrine.

Ascot Elite Entertainment Group
«Niemand kommt jemals vorbei, um mich zu retten»

Obwohl, eigentlich ist es anmassend, verstehen zu wollen, wie es einem Kind gehen muss, das weiss: Es ist weniger wert als eine Droge. Eine, die weiss, wie sich das anfühlt, ist Michelle Halbheer. Die heute 30-Jährige lieferte die Vorlage zum Film. Ihr gleichnamiges Buch erschien 2013. Ihre Mutter war schwer heroinsüchtig. Nach der Scheidung der Eltern war sie ihr hilflos ausgeliefert. 

Und genau da setzen Film und Buch überraschend an. Sie sind den vergessenen Kindern gewidmet. Denn damals wie heute ist es nicht aussergewöhnlich, wenn Kinder bei ihren drogenabhängigen Eltern gelassen werden. Behörden sehen sie als Hilfsmittel zum Entzug an. Ein Beispiel aus Film und Buch: Mia (Film) resp. Michelle (Buch) findet ihre Mutter regungslos auf dem Bett. Spürt nur wenig Puls und ruft in der Konsequenz die Ambulanz und die Polizei. Die Sanitäter reanimieren die Ohnmächtige. Sandrine geht auf ihre Helfer und die Ordnungshüter los. Diese ziehen sich zurück und lassen das Kind bei der aggressiven Mutter. «Ich bin zehn Jahre alt und werde weitere drei Jahre in dieser Hölle leben, und niemand kommt jemals vorbei, um mich zu retten», schreibt Michelle Halbheer in ihrem Buch.

Sara Spale Luna Mwenzi Platzspitzbaby

In einer der schlimmsten Szenen des Filmes verkauft Mutter Sandrine Mias Hund Twister für Drogen. Das Tier war der stetige Begleiter des Kindes. 

Ascot Elite Entertainment Group
Film fasst die Erlebnisse vieler Kinder zusammen

Michelle Halbheer hat eng mit Regisseur Pierre Monnard zusammengearbeitet. Der Autorin war wichtig, dass «Platzspitzbaby» die Erlebnisse vieler Kinder von Drogensüchtigen aufnimmt und nicht nur eine filmische Adaption ihres Buches ist. «Der Film ist sehr authentisch, was das Leben von Kindern Süchtiger betrifft. Mir war da bei der Entstehung auch wichtig, dass ich Erlebnisse von Freunden einfliessen lassen durfte. Das heisst, es geht nicht um mich, sondern ums Erlebte innerhalb dieser Problematik», sagt sie in einem Interview mit «Bluewin».

«Wir wollten noch tiefer in die Thematik – auch für die Menschen, die nicht gerne lesen. So werden mehr Zielgruppen erschlossen, die sich mit dem Problem auseinandersetzen», sagt MIchelle Halbheer weiter. Ich bin keine, die nicht gerne liest und dennoch ist mir das Problem weitestgehend entgangen. Ein Umstand, der mich schockiert.

Michelle Halbheer Autorin Platzspitzbaby

Stark, schön und ehrlich: Michelle Halbheer hat die Erlebnisse ihrer Kindheit am Platzspitz in einem Buch veröffentlicht.

Geri Born
Kinder sollten nicht der Kollateralschaden der Sucht ihrer Eltern sein

Da liege ich also, nachdem ich «Platzspitzbaby» geschaut habe, in meinem weichen Bett, meinem schönen Zuhause, meine glückliche Kindheit im Gepäck, meine glückliche Gegenwart in Form meines leise schnarchenden Partners neben mir. Ich denke darüber nach, wie wenig mir doch bewusst war, dass all das Elend rund um den Platzspitz auch Kinder hervorbrachte. Kinder, die durch das soziale Netz gefallen sind. 

Sätze wie: «Wenn man ihr die Kinder abnimmt, dann stürzt sie erst recht ab», habe ich oft gelesen und gehört. Und sie, zu meinem eigenen Entsetzen, immer bejaht. Ich fühle mich furchtbar unreflektiert. Müsste es doch heissen: «Wenn man ihr die Kinder nicht wegnimmt, stürzen sie erst recht ab.» Denn diese Kinder haben noch Chancen auf ein Leben ohne Drogen, sie sollten nicht der Kollateralschaden der Sucht ihrer Eltern sein. 

Ich lade mir das Buch von Michelle Halbheer auf meinen E-Reader, schaue mir die schöne Frau mit wachem Blick auf dem Cover an und beginne zu lesen, bis mir die Augen zufallen. Dankbar, etwas verstanden zu haben.

«Platzspitzbaby» läuft ab dem 16. Januar in den Deutschschweizer Kinos.

Berit-Silja Gründlers
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Von Berit-Silja Gründlers am 16. Januar 2020 - 17:16 Uhr